Die Renaissance der Nationalbewegungen in den
Unionsrepubliken gehörte zu den wichtigsten Triebkräften, die das Ende der
Sowjetunion (UdSSR) herbeiführten. Die Vorreiterrolle hatten hierbei die
baltischen Staaten, die 1941 im Zuge des
Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes von der UdSSR
okkupiert und dann
annektiert worden waren.
Die nationalen Bewegungen in diesen drei Republiken konnten nicht nur beträchtlichen Zulauf bei der Durchsetzung und Anerkennung der
souveräner Rechte erreichen, sondern auch die letztendlich erfolgreiche einseitige Loslösung von der Sowjetunion. Es ist zu bemerken, dass bei baltischen Republiken die Frage des Selbstbestimmungsrechts der Völker im Sinne des Völkerrechts beim
Zerfall der Sowjetunion gar nicht in Frage gestellt werden kann, da die Staatlichkeit der baltischen Republiken schon vor der Okkupation der UdSSR existierte und 1990–1992 die (politische) Unabhängigkeit nur zu verkünden war. Neue baltische Staaten sind nach dem Zerfall der UdSSR nicht entstanden, da sie als Staaten auch früher gegolten haben.
Das Vorbild der Staaten im
Baltikum machte zunächst in denjenigen Teilrepubliken Schule, die ihrerseits auf die Tradition von Nationalbewegungen zurückblicken konnten, etwa
Georgien und die
Ukraine, wurde jedoch auch von Staatsführern adaptiert, deren
Staatsnationen überwiegend eine Kreation der
Stalin-Ära waren, z. B.
Turkmenistan.
Das Konzept des Selbstbestimmungsrechts konnte auch deshalb so in manchen ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken einflussreich werden, da
Lenin es bereits vor der
Oktoberrevolution zum Kern seines Programms gemacht hatte. Seiner Theorie nach war die Sowjetunion ein freies Bündnis
freier Völker die ihr Selbstbestimmungsrecht verwirklicht hatten.
Dieser positive Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht wurde während der gesamten sowjetischen Epoche beibehalten. Die Ukraine und Belarus (damals noch als
Bjelorußland) wurden auf diese Weise – als theoretisch selbstständige Staaten – am 24. Oktober 1945 zu Gründungsmitgliedern der
Vereinten Nationen.
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Besonders in den ersten Jahrzehnten wandte das sowjetische Regime erhebliche Mittel für das
nation building in den neu gegründeten Republiken
Turkestans auf, in dem bis dato keinerlei nationalstaatliche Tradition existierte, sondern der Bezug auf Stammesidentität, Religion und Lebensweise (nomadisch vs. sesshaft) identitätsprägend gewirkt hatte.
Während Lenins Theorie besagte, dass die Nationen, wenn ihnen größtmögliche Selbstbestimmung gewährt würde, auf die Dauer von selbst verschwinden würden, trat historisch das Gegenteil ein: Die Sowjetunion zerbrach 1991 exakt entlang jener Grenzen, die von Lenin und seinem Nationalitätenkommissar Stalin gezogen worden waren.