bpb / 03.08.2015
Geschichte der Ukraine im Überblick
Das heutige Territorium der Ukraine gehörte im Laufe der Geschichte zu mindestens
14 verschiedenen Staaten, darunter das
Königreich Polen-Litauen, das
Russische Reich, die
Habsburgermonarchie und die
Sowjetunion. Im Spannungsfeld zwischen Ost und West gelegen, hat es sich häufig gegen seine Nachbarn behaupten müssen.
Der Gegenstand
Das Gebiet des heutigen ukrainischen Staates bzw. seiner Teilregionen war im Laufe der Geschichte Bestandteil von mindestens 14 verschiedenen Staaten; die wichtigsten unter ihnen waren das Königreich Polen-Litauen, das Russische Reich, die Habsburgermonarchie und die Sowjetunion. Gegenstand der ukrainischen Geschichte kann also nicht der Staat sein wie im Fall Frankreichs oder Russlands. Dies gilt allerdings nicht nur für die Ukraine, sondern für viele andere moderne Staaten, unter ihnen Deutschland und Italien.
Angesichts der fehlenden staatlichen Kontinuität könnte das ukrainische Volk Gegenstand der Geschichte sein. Der Begriff des Volkes ist allerdings schwammig und bezeichnet in einzelnen Epochen unterschiedliche Gemeinschaften. Dies spiegelt sich auch in den Völkernamen wider. Das Gleiche gilt für die Nationen, die sich erst in der Frühen Neuzeit zu formieren begannen und im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts konsolidierten. Die Nationsbildung der Ukrainer wurde von den herrschenden Nationen der Polen und Russen, die die Existenz einer ukrainischen Nation lange, zum Teil bis heute, in Abrede stellten, behindert und verzögert. Dies hat auch Auswirkungen auf die Geschichtsschreibung: Die ukrainische Erzählung wurde und wird vom polnischen und russischen historischen Narrativ angefochten.
So bleibt als Gegenstand einer ukrainischen Geschichte nur das Territorium des heutigen unabhängigen Staates. Das bedeutet, dass nicht nur die Ukrainer, sondern auch andere ethnische Gruppen wie die Juden, Polen, Russen, Deutschen und Krimtataren, die auf diesem Territorium lebten, mit berücksichtigt werden müssen.
Geografische Gegebenheiten
Der Name
Ukraine bedeutet
Grenzland. Damit war die Grenze zur Steppe gemeint, die Trennlinie zwischen Sesshaften und Nomaden, die bis ins 18. Jahrhundert grundlegende Bedeutung hatte. Dies war der
Lebensraum der
Kosaken, die in der ukrainischen Geschichte eine herausragende Rolle spielten. In modernen Deutungen erscheint die Ukraine als Grenzland im Sinne der Vermittlung zwischen Ost und West, zwischen der orthodoxen und der römisch-katholischen Welt. Als Sinnbild dafür kann die Sophienkathedrale in Kiew mit ihren byzantinischen Mosaiken im Inneren und ihrem barocken Äußeren gelten.
Das Gebiet der Ukraine ist Teil der
osteuropäischen Tiefebene und weist über weite Strecken keine naturräumlichen Grenzen auf. Die einzigen Ausnahmen sind das Schwarze Meer im Süden und die Karpaten, das einzige nennenswerte Gebirge, im Westen. Allerdings gehört auch ein kleines Gebiet jenseits der Karpaten, Transkarpatien oder Karpato-Ukraine, zum heutigen Staat. Im Osten und Norden, gegenüber Russland, Belarus und Polen, sind die Grenzen der Ukraine dagegen weitgehend offen. Sie war deshalb immer wieder ein
Durchzugsgebiet und ein
Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen.
Ein wichtiges Gliederungselement sind die Flüsse, allen voran der Dnjepr (ukr.: Dnipró), der die Ukraine in zwei Teile schneidet. Der Dnjepr war seit dem Frühen Mittelalter ein bedeutender Handelsweg zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer mit der Stadt Kiew als wichtigstem Umschlagplatz. Allerdings wurde die Schifffahrt bis zum Bau eines Flusskraftwerks durch Stromschnellen (porohy) behindert. Jenseits (sa) der Stromschnellen hatten die ukrainischen Kosaken ihr Hauptquartier, daher ihr Name Saporoscher Kosaken. Ebenfalls ins Schwarze Meer münden im Westen der südliche Bug, der Dnjestr (Dnistér) und der Pruth, im Osten der Don, dessen Nebenfluss Donez der wichtigste Fluss der Ostukraine ist. Zum Einzugsgebiet der Ostsee gehört der westliche Bug an der Grenze zu Polen.
Die meisten Gebiete der Ukraine weisen fruchtbare Schwarzerdeböden auf und sind für den Ackerbau (Weizen, Mais, Sonnenblumen) ausgezeichnet geeignet. Dazu trägt auch das gemäßigt kontinentale Klima bei, das allerdings in den Steppengebieten relativ geringe Niederschläge aufweist. Die wichtigsten Bodenschätze sind die Steinkohlelager im Donezbecken (Donbass) und die Eisenerzvorkommen am unteren Dnjepr, die der wichtigste Motor der Industrialisierung des Russischen Reiches waren.
Das große Territorium wird nach naturräumlichen und historischen Kriterien in einzelne Regionen gegliedert. Die Westukraine umfasst Galizien (mit dem Zentrum Lemberg/ukr.: Lwiw), die Nord-Bukowina (Czernowitz/ukr.: Tscherniwzi) und die Karpato-Ukraine (Uschhorod). Zur Zentralukraine rechnet man Wolhynien, Podolien und das Gebiet des mittleren Dnjepr mit der Hauptstadt Kiew. Unter Südukraine versteht man das Gebiet nördlich des Schwarzen Meeres mit dem Hafen Odessa und der Halbinsel Krim. Die Teilregionen der Ostukraine sind der Donbass (Donezk), die Sloboda-Ukraine (Charkiw) und das Gebiet des unteren Dnjepr (Dnipropetrowsk).
Der Gründungsmythos der Kiewer Rus
Das Territorium der heutigen Südukraine war in der Antike Schauplatz der Wanderungen von Steppenvölkern aus Asien nach Europa, und am Ufer des Schwarzen Meeres errichteten Griechen und Römer ihre Kolonien.
Im späten
9. Jahrhundert begründeten
normannische Krieger und
Kaufleute, die
Rus genannt wurden, am mittleren Dnjepr einen Herrschaftsverband mit dem Zentrum Kiew, der nach ihnen die Bezeichnung
Rus erhielt. Die Oberschicht der Rus wurde von der ansässigen slawischen Bevölkerung bald assimiliert. Am Ende des 10. Jahrhunderts nahm Fürst Wladimir (ukr.: Wolodymyr) das Christentum an, und die Rus gehörte fortan zur Welt des Byzantinischen Reiches und der Orthodoxen Kirche. Gleichzeitig stand die
Kiewer Rus in kommerziellen und dynastischen Beziehungen zu nord-, mittel- und westeuropäischen Ländern, und ihre Fürsten gehörten zur "Familie der europäischen Könige".
Das Kiewer Reich war ein Zentrum des Handels zwischen Ostsee und Schwarzem Meer und zwischen Mitteleuropa und Asien. Neben Kiew war ein wichtiger Stützpunkt die Stadt Nowgorod im Norden, die eines der vier Hansekontore (= Niederlassung von hansischen Kaufleuten im Ausland im Spätmittelalter) war. Die orthodoxe Kultur (Malerei, Literatur, Architektur) erlebte einen raschen Aufschwung mit dem Kiewer Höhlenkloster als Zentrum. Die Rus war ein loser Verband einzelner Fürstentümer unter verschiedenen Zweigen der herrschenden Dynastie der Rjurikiden. An deren Spitze stand der Kiewer Fürst, andere wichtige Fürstentümer waren Galizien-Wolhynien im Westen, Polozk im Nordwesten und Wladimir-Susdal im Nordosten.
In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurde die gesamte Rus von den Mongolen erobert, und viele Städte wurden zerstört. Kiew fiel im Jahr 1240.
Die
Kiewer Rus umfasste die wichtigsten Gebiete der heutigen Staaten Ukraine, Russland und Belarus (Weißrussland), und ihre Geschichte ist der Gründungsmythos aller drei Staaten. Die ukrainische und russische Geschichtsschreibung wetteifern bis heute um ihr Erbe. Im national-ukrainischen Narrativ ist der Bezug auf die frühe Staatlichkeit von Kiew von zentraler Bedeutung, in Russland gilt das Reich von Kiew dagegen als Vorläufer des Moskauer Staates und des Russischen Reiches. Die Kontroverse ist in den letzten Jahren neu aufgeflammt, und jüngst hat sich selbst der russische Präsident Wladimir Putin eingeschaltet.
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