Ideengeschichte des Kibbuz
Einleitung
Als eine Handvoll junger, zionistischer Siedler im Jahr
1910 in der Nähe des See Genezareth eine landwirtschaftliche Siedlung gründete, war ihnen wohl nicht bewusst welch ein einschneidendes
historisches Ereignis für den noch zu gründenden Staat Israel das sein würde.
Degania, so der Name dieser Siedlung, sollte der erste von vielen Kibbuzim (Mehrzahl von Kibbuz) sein, die in der
Besiedlung, Landesverteidigung und
Staatsgründung Israels eine unersetzliche Rolle spielen sollten. Die Lebensform des Kibbuz prägte viele wichtige Persönlichkeiten aus Politik und Militärwesen Israels und hatte dadurch großen Einfluss auf den Staat. Ebenso prägend aber war der Kibbuz für das Selbstbild und das Selbstverständnis der Israelis sowie auch für das Bild im Ausland. Nichts weniger als einen neuen Menschen zu erschaffen war das Ziel. Viele junge Europäer machten sich nach dem 2. Weltkrieg auf, um im Heiligen Land das
sozialistische Experiment selbst zu erleben. Vor allem auf die Linke macht die Idee des
gelebten Sozialismus mächtig Eindruck.
Auf den ersten Blick ist die Idee der Kibbuzim sehr simpel und wirkt tatsächlich wie eine sozialistische Utopie par excellence. Wer aber in die Geschichte dieser Institution eintaucht, findet eine Reihe von Ideen, die über gelebten Sozialismus hinausgehen beziehungsweise dem sozialistischen Gedanken wie wir ihn im Sinne von Gleichheit und grenzenloser Solidarität kennen durchaus auch widersprechen.
In dieser Arbeit möchte ich auf die Ideengeschichte des Kibbuz und der Denker die dahinterstehen eingehen sowie auch die Veränderung dieser Ideen im Laufe der Zeit betrachten. Nach einer kurzen Einleitung und einiger grundsätzlichen Feststellungen, möchte ich Gedanken der wichtigsten zionistischen Denker ausführen, die sich im Kibbuz manifestieren beziehungsweise auch Gedanken außerhalb des Zionismus aufgreifen, die für die Kibbuzim bis heute eine wichtige Rolle spielen. Was beeinflusste die Pioniere und wie manifestierten sich diese Ideen in den Kibbuzim? In all seinem Idealismus wie auch in seinen Widersprüchlichkeiten kann man die Geschichte des Zionismus und des jungen Staates Israel entlang der Ideen, die sich im Kibbuz zeigen, zwischen Anspruch und Wirklichkeit in einem spannenden Gang durch große Gedanken nachvollziehen
Grundsätzliches zum Kibbuz
Die Lebens- und Wirtschaftsweise des Kibbuz kann unter dem Motto zusammengefasst werden:
Jeder gibt was er kann, jeder erhält was er braucht.
Ein Kibbuz ist eine selbstverwaltete, landwirtschaftliche Siedlungseinheit. Der bedeutende Unterschied zu sowjetischen Kolchosen ist die
Freiwilligkeit. Die Kibbuzniks (Bewohner) leisten innerhalb der Gemeinschaft Arbeit und erhalten dafür als Gegenleistung keine Bezahlung, sondern die Deckung des Lebensbedarfs.
Es gibt in jüngerer Zeit auch Kibbuzniks die außerhalb der Gemeinschaft einer Erwerbsarbeit nachgehen, ihren Lohn aber in die Gemeinschaft in der sie leben einbringen. Die Bewohner eines Kibbuz müssen sich weder um Wohnung, Verpflegung, Bildungsausgaben für Kinder oder sonstige Ausgaben kümmern. Bis zu einem gewissen Grad sind auch Hobbies und Dinge wie Auslandsreisen abgedeckt. Kibbuzim sind
basisdemokratisch organisiert und werden über die
Mitgliederversammlung und verschiedene darüber gewählte Organe verwaltet.
Ein allgemein gültiges Statut für alle Siedlungen gibt es nicht, die Kibbuz-Unionen beeinflussen ihre Mitgliedsbetriebe aber. In den letzten Jahrzehnten gab es einige Änderungen. Der Kibbuz kümmert sich um die Kindererziehung vom Kleinkindalter an über Kinderhäuser, auch wenn auch Übernachtung und somit auch Erziehung innerhalb der eigenen Familie in den letzten Jahrzehnten zugenommen haben. Waren Kibbuzim einst reine Landwirtschaftskommunen, sind sie mittlerweile auch in der Industrie tätig, teils auch unter Zuhilfenahme von Lohnarbeitern.
Neben der landwirtschaftlichen Funktion die sie ausübten, mussten sich die Siedler auch gegen ihre palästinensischen Nachbarn und Beduinen verteidigen. Außerdem stellten viele Kibbuzim die Sicherung der erworbenen Gebiete dar. In den abgelegenen Gebieten sicherten die Siedler die Kontrolle über diese Landstriche. Untergrundorganisationen wie die Hagana nützten die Kibbuzim als Lager und Stützpunkte.
Von Pionieren, Revolution, und Neuen Menschen
Die Siedler, die 1910 am südlichen Ende des See Genezareth den ersten Kibbuz Degania gründeten, waren zu einem großen Teil mit der
2. Alija aus
Osteuropa nach Palästina gekommen. Geflohen vor dem
Antisemitismus Russlands und
Europas waren diese oft mittellosen Männer und Frauen keineswegs nur vom zionistischen Gedanken, sondern durchaus auch darüberhinausgehend vom Wunsch nach einer gänzlich neuen Welt geprägt.
Der
Sozialismus, der sich auch bei vielen zionistischen Denkern in Russland und Europa großer Beliebtheit erfreute, war eine
starke Triebfeder der jüdischen Siedler. Dabei geht der Gedanke so weit, dass durch die Arbeit in der Landwirtschaft ein
„Neuer Mensch“ geschaffen werden soll.
Dass sie bei der Besiedlung keineswegs wie es die zionistische Parole („Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“) verheißt auf ein Land ohne Volk stießen, bedeutete für die Siedlergemeinschaften die sich nach und nach bildeten, dass Traktor und Gewehr gleichermaßen zur Ausrüstung des Kibbuzniks gehörten. Von Anfang an war es Aufgabe der Kibbuzniks das Land nicht nur zu bestellen, sondern es auch gegen die Nachbarstaaten zu sichern. Dieser Pioniergeist sorgte nicht nur innerhalb Israels für Furore, sondern war auch in Westeuropa lange Zeit das Sinnbild für Revolution. Vor allem unter jungen Linken galt der Kibbuz als Sehnsuchtsort. Die Mischung aus Sozialismus und revolutionärem Geist war in den 1960er Jahren im Trend, Figuren wie Che Guevara und Mao waren in der Popkultur angekommen. David Ben Gurion, der 1948 den Staat Israel ausrief und anschließend zum Gesicht des jüdischen Widerstands im Unabhängigkeitskriegs wurde, verbrachte einige Jahre seines Lebens im Kibbuz Sde Boker mitten in der Wüste Negev in sehr einfachen Verhältnissen. In David Ben Gurion spiegeln sich
Sozialismus und
Nationalismus ebenso wieder wie der Pioniergeist, durch den das Land Israel von den Kibbuzniks in harter Arbeit gezähmt werden konnte. Dieser
Pioniergeist halutziut, durch den sogar die unwirtliche Wüste Negev gezähmt werden konnte, ist für Ben Gurion das
Rückgrat der
israelischen Gesellschaft. Viele junge Idealisten verbrachten den Sommer als freiwillige Helfer in einem der zahlreichen Kibbuzim, ab 1967 gab es sogar Agenturen die sich um die Rekrutierung und Zuteilung der Volunteers kümmerten. Die Europäer und Amerikaner beeinflussten die Isaelis mindestens ebenso wie es umgekehrt der Fall war.
Bemerkenswert ist die
scheinbare Leichtigkeit, mit der z
ionistische Denker von Anfang an
nationalistische Ideen mit dem
Sozialismus verknüpfen.
Während sich über den Kommunismus von Karl Marx der Gedanke des internationalen Klassenkampfs des Proletariats bis in die UDSSR ausbreiten konnte und die Sowjets in Moskau sich als die Antreiber einer internationalen Bewegung sahen, war die jüdische Arbeiterbewegung über den Zionismus immer an die Idee des Staats gebunden. Das manifestierte sich auch in der Kibbuzbewegung, die ein wichtiger Baustein vor und nach der Staatsgründung Israels war.
Diese beiden Elemente,
Sozialismus und
Zionismus, sind es auch, über die der Kibbuz häufig in der Literatur beschrieben wird. Mindestens ebenso bemerkenswert ist auch die fast schon freundschaftliche, lockere Verbindung die zum Kapitalismus von Anfang an besteht und sich im Laufe der Zeit in der Entwicklung der Kibbuzbewegung mühelos fortsetzt. Aus diesem
wilden Mix an Ideen entstanden Gemeinschaften, die
Utopie und
Realität miteinander
verknüpfen. Während viele sozialistische Experimente des 20. Jahrhunderts an verschiedensten Faktoren und an der eigenen Doktrin zerschellt sind, ist es vielleicht gerade die
Flexibilität, die die
Gegensätze und
Widersprüchlichkeiten dem Kibbuz verleihen, die noch heute viele Menschen in ganz Israel an die
Ideale und die
Werte dieser
Kommunen glauben lassen.
https://www.erlebe-israel.at/ideenge...te-des-kibbuz/