„Ehrenmorde“ in der BRD
Der Mord an der Deutschkurdin Hatun Sürücü in Berlin hat bundesweit eine Debatte über Ehrenmorde und Zwangsverheiratung ausgelöst, in der es viele offene Fragen gibt. Eine Antwort auf die Ursache einiger Morde an Kurdinnen in der letzten Zeit gab der gebürtige Kurde Giyasettin Sayan, der seit 1995 für die PDS im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt und oft als Vermittler in familiären Auseinandersetzungen tätig ist, in einem Interview. Sayan führt diese Ehrenmorde auf die in einigen ländlichen Regionen Türkisch-Kurdistans erhaltenen Stammesstrukturen mit ihren Normen zurück.
Da der uns fremde kulturelle Hintergrund sicher eine Bedingung für die „Ehrverbrechen“, von denen die Tötung nur die Spitze des Eisbergs darstellt, ist, dokumentieren wir hier Auszüge aus dem Interview. Dass sie als alleinige Erklärung reichen, darf bezweifelt werden.
Hiesige Wissenschaftler meinen, dass die Morde in deutschen Großstädten nicht umstandslos auf archaische Traditionen zurückgeführt werden könnten, da hier der soziale Druck des kurdischen Dorfes nicht existiere. Für die gewalttätigen Eskalationen machen sie Desintegrationsprobleme einiger MigrantInnen verantwortlich. Diese akzentuierten wieder ihr Anderssein und griffen dabei willkürlich auf althergebrachte kulturelle Elemente zurück: neben dem Kopftuch eben auch auf die Ehre. (M.)
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„Diese Familien leben nach Stammesgesetzen“
Interview mit Giyasettin Sayan (Auszüge)
Frage: Welche Kultur meinen Sie mit feudaler Kultur?
Sayan: Alle Familien, in denen die vier Ehrenmorde in Berlin stattgefunden haben [siehe Kasten], waren Kurden. Sie stammten aus kurdischen Gebieten, aus Gebieten, wo noch feudale Verhältnisse, also Stammesstrukturen, herrschen, wo die Familie eine große Rolle spielt, Blutsverwandtschaft sehr wichtig ist und die Menschen sich gegenseitig kontrollieren.
Dort gehört es sich, den weiblichen Anteil der Familie zu schützen, denn das ist ein schwacher Teil der Familie oder des Stammes. Das ist ein Teil der Ehre. Dort heißt es, die Frau ist eine Ehre des Mannes, des Stammes, der Familie. Wenn jemand diese Ehre verletzt, ist das eine Kränkung der Familie und des Stammes, eine kollektive Entehrung, und dann muss etwas geschehen. Das kann heißen, die Tötung der Frau und auch des Mannes, der das getan hat. Das ist ein ungeschriebenes Stammesgesetz in dieser Kultur.
Frage: Diese Stammesgesetze gelten auch in Berlin?
Sayan: Das ist das Schlimme, dass Familien, die sich seit Jahrzehnten hier befinden, noch immer unter der Kulturhoheit des Stammes, des „asiret“, stehen, und auch unter dessen Bildungs- oder Erziehungshoheit - dass also nicht Berliner oder deutsche Institutionen, Erziehungsinstitutionen, Schule etc., die Hoheit über die Kinder haben, sondern der Stamm und die Familie. Das ist ein Phänomen, über das man wirklich sehr viel mehr forschen und berichten müsste. Ich denke, es ist so stark, dass es Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte dauern wird, bis diese Kulturgüter, die ich als feudal, reaktionär und konservativ betrachte, aus den hier lebenden Menschen verschwinden.
Frage: Inwiefern hat der Mord an Hatun Sürücü [siehe Kasten] mit dem kurdischen Stammessystem zu tun?
Sayan: Es gibt - jedenfalls in den ländlichen kurdischen Gebieten - keinen Kurden, der nicht zu irgendeinem Stamm gehört. Vor allem in Ostanatolien, also im kurdischen Gebiet. Die Stämme haben dort bestimmte Funktionen des Staates übernommen, karitative, soziale, kulturelle, auch die Ordnungsrolle des Staates. Der Staat existiert dort für sie nur in negativem Sinne, als korrupter und repressiver. Und was an seine Stelle tritt, ist dieses Verwandtschaftsnetz. Darin gibt es Leute, die schützen können, die für Gerechtigkeit sorgen, die Rache schlichten, die Heiratsgeschichten organisieren können. Diese Stammesstrukturen ersetzen den Staat. Wenn ein Teil von diesem Stamm, in die Bundesrepublik kommt, bleiben die Familien sehr eng mit dem anderen Teil des Stammes im Herkunftsland verbunden, und die Ehre ist dort verankert.
Frage: Das heißt, wenn die Sürücüs den Mord nicht begangen hätten, hätten sie nicht nur über ihre eigene Familie, sondern auch über andere Mitglieder ihres Stammes Schande gebracht?
Sayan: Ja, sie hätten ihr Gesicht verloren. Und wenn sie dahin gefahren wären, woher sie kommen, dann wären sie dort nicht mehr gut angesehen gewesen.
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Frage: Diese Beschreibung der Stammeskonflikte und der Angst legt doch den Schluss nahe, dass man froh sein müsste, sich daraus befreien zu können. Alle leiden darunter, Männer und Frauen. Warum ist dieses Ehrsystem dennoch so beständig?
Sayan: Weil es eine Jahrtausende alte Tradition und Kultur ist.
Frage: Aber das ist doch schrecklich, oder?
Sayan: Es ist schrecklich. Es gibt bestimmte Gegenden, in denen das „asiret“ kaum noch eine Rolle spielt, etwa in Dersim. Die Stadt ist so hoch politisiert, dort spielt Mao Tse-tung eine größere Rolle als das „asiret“. Die Linken kämpfen gegen das „asiret“-System, weil sie sagen, damit kommen wir nicht weiter und es sei ein Hindernis für die Befreiungsbestrebungen. Auch die PKK hat, aus Machtkalkül, „asiret“-Führungen angegriffen. Aber abgeschafft hat sie das System nicht. In ländlichen Gebieten herrscht das „asiret“.
(Quelle: taz Berlin, 22.9.2005, Interview: Alke Wierth)
Anmerkung: Giyasettin Sayan, 55, sitzt seit 1995 für die PDS im Berliner Abgeordnetenhaus. Der Diplom-Politologe stammt aus Mus im kurdischen Osten der Türkei, seit den 70er Jahren lebt er in Deutschland. Er ist migrationspolitischer Sprecher seiner Fraktion und Mitglied des Präsidiums des Abgeordnetenhauses.