Volkstimme / 08.06.2024 von Uwe Kreißig
„Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke.“
Doppeldenk und Neusprech
Magdeburg Als George Orwell seinen Roman
„1984“ kurz vor seinem Tod im Jahr
1950 fertig gestellt hatte, konnte er nicht ahnen, dass er damit einen Klassiker geschaffen hatte, der inhaltlich, stilistisch und in seinen Prophezeiungen weiterhin
gültig ist. Entstanden war das Buch in Orwells Kenntnis der Vorgänge der großen „Säuberungen“ unter Stalin, aber auch der alles überwölbenden, totalitären Propaganda im sowjetischen System. Beeinflusst wurde Orwell zudem durch die Romane
„Die eiserne Ferse“ von Jack London und
„Wir“ von Jewgeni Samjatin.
Die Hauptfigur ist der kleine Beamte Winston Smith, der Mitglied der „Äußeren Partei“ ist, und im
Ministerium für Wahrheit Texte aus der Vergangenheit
umschreibt. Smith lebt in kargen Verhältnissen im „Landefeld 1“, dem ehemaligen England, das zu Ozeanien gehört. Ozeanien liegt im Dauerkrieg mit einem der beiden anderen Superstaaten Eurasien und Asien. London ist völlig heruntergekommen.
Die
Gedankenpolizei überwacht jeden mit Spitzeln und „Telescreens“. Im
Staatsfernsehen läuft Propaganda in
Schleife. Vermeldet werden praktisch nur Erfolge. Festgeschrieben ist die
„Hasswoche“ gegen austauschbare politische und militärische Gegner. Neben der
„Elite“ und der
„äußeren Partei“ gibt es die „
Proles“.
„Körperliche Schwerarbeit, die Sorge um Heim und Kinder, kleinliche Streitereien mit den Nachbarn, Kino, Fußball, Bier und vor allem Glücksspiele steckten ihren Denkhorizont ab. Es war nicht schwer, sie unter Kontrolle zu halten“, heißt es über diese Gruppe.
Folter für Abweichler im Ministerium für Liebe
Smith wird eines Tages zum
Zweifler, beginnt ein
verbotenes Tagebuch und eine
verbotene Liebe zu einer Parteigenossin, die ihn als Abweichler
bestärkt. Doch
beide werden
denunziert, im „Ministerium für Liebe“
gefoltert und
vollständig umgedreht.
Orwell erkannte den Wunsch
repressiver Machteliten nach
expansiven, zentralisierten Superstaaten. Die ständige Überwachung der Bürger ist dabei das zentrale Moment. In seiner düsteren Zukunftsvision wird an den Außengrenzen ein
permanenter Krieg gegen einen
schrecklichen Gegner geführt, den es zu
vernichten gilt. Die
Propaganda meldet jeden Tag
gewaltige Erfolge. Der
Dauerkrieg dient als
Begründung für
Mangel, Rüstung und letztlich auch für die
Herrschaft von Partei und des
„Großen Bruders“.
Ständig wird in „1984“ der
Ausnahmezustand beschworen, nur das Kriegsziel
ändert sich. Zentral sind dem Regime der völlige Umbau und die Reinigung der Sprache von
„schädlichen Begriffen“. Daraus entwickelt sich das
„Neusprech“. Bereits der
Wunsch zum
Widerstand ist ein
„Gedankenverbrechen“, für die Aufklärung ist die „
Gedankenpolizei“ zuständig.
In der DDR war das Buch wie in den meisten Ostblockstaaten verboten. Die Stasi machte Jagd auf Besitzer, das in einzelnen Exemplaren ins Land geschmuggelt wurde. Immer wieder wurden in der DDR Gefängnisstrafen für den Besitz von „1984“ verhängt.
Buch in China keineswegs verboten
Interessanterweise ist es in China seit Maos Tod
nicht mehr verboten. Das Buch steht dort in vielen Büchereien, wie die „Neue Zürcher Zeitung“ im vergangenen Jahr berichtete.
1979 war es erstmals in einer
chinesischen Übersetzung für den „inneren Kreis“ erhältlich, seit
1988 dann für
alle Chinesen. Überraschend erscheint auch, dass 2023 in
Russland ein auf Orwells Roman beruhender Film mit dem Originaltitel „1984“ gedreht wurde.
Viele Zitate aus „1984“ stehen für sich und sind legendär geworden.
„Freiheit bedeutet die Freiheit, zu sagen, dass zwei und zwei vier ist. Gilt dies, ergibt sich alles Übrige von selbst“, heißt es bei Orwell. Oder:
„Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke.“
Um die alltäglichen Widersprüche der Diktatur in Ozeanien überhaupt in eine
„logische Form“ zu bringen, bedarf es des
„Doppeldenks“.
„Doppeldenk bedeutet die Fähigkeit, gleichzeitig zwei einander widersprechende Überzeugungen zu hegen und beide gelten zu lassen … Doppeldenk ist der Kern des Engsoz, denn das Hauptgeschäft der Partei besteht in bewusster Täuschung, bei der sie die Unerschütterlichkeit absoluter Redlichkeit bewahrt“, heißt es im Roman.
Die oberste Regel in Ozeanien lautet:
„Was die Partei für Wahrheit hält, ist die Wahrheit. Es ist unmöglich, die Wahrheit anders zu sehen, als mit den Augen der Partei.“
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