psichi.org 2014 | JAHRGANG 18 | AUSGABE 3
Ehrliche Lügner: Psychologische Theorien zum Verständnis der Selbsttäuschung
von Cortney S. Warren, PhD, University of Nevada, Las Vegas
„Menschen sind ausgezeichnete Lügner. Wir denken nicht gern, dass wir lügen können; es schmerzt uns zu sehr, es zuzugeben. Also lügen wir auch darüber“
(Warren, 2014c, S. 4).
...
Wir
täuschen uns
selbst über alles, von winzigen, scheinbar unbedeutenden Aspekten unseres Lebens bis hin zu unseren einflussreichsten Lebensentscheidungen (Warren, 2014c). Zum Beispiel fällt es uns schwer, zuzugeben, wie viel Geld wir tatsächlich jede Woche für Kaffee ausgeben und warum wir unsere Kreditkartenrechnung nicht rechtzeitig bezahlt haben. Wir belügen uns auch selbst, wenn es darum geht, bestimmte Partner auszuwählen oder einen bestimmten Karriereweg einzuschlagen. Unglücklicherweise für alle von uns, die in einer ewig positiven Fantasiewelt aus Romantik und Realität leben wollen, fühlen wir uns aus vielen Gründen von Menschen und Berufen angezogen, die absolut nichts mit Liebe zu tun haben!
Obwohl
Selbsttäuschung ein
komplexes Konstrukt ist, belügen wir uns im Grunde selbst, indem wir etwas Wahres
nicht zugeben oder
etwas Falsches glauben (Deweese-Boyd, 2012; Paulhus, 1984).
Im Grunde
betrügen wir
uns selbst, weil uns die psychische Kraft
fehlt, die Wahrheit
zuzugeben und uns nach der Erkenntnis zu ändern (Warren, 2014c).
So hilft uns Selbsttäuschung,
schmerzhaften Lebensrealitäten aus dem Weg zu gehen. Sie ist ein guter
Bewältigungsmechanismus, da sie uns hilft, die
Wahrheit zu
verdrehen, zu
manipulieren und
zurechtzubiegen, um sie mit unserer
psychischen Erträglichkeit in Einklang zu bringen (Warren, 2014c). Allerdings kann Selbsttäuschung auch tiefes Bedauern auslösen, da Selbstbetrug uns daran hindert, ein erfülltes Leben zu führen.
Theorien der menschlichen Natur und Selbsttäuschung
Obwohl nur wenige psychologische Theorien über die menschliche Natur Selbsttäuschung offen beschreiben, können die meisten davon uns helfen zu verstehen, wie wir uns selbst belügen. Insbesondere psychodynamische, kognitiv-verhaltensbezogene, existenzielle und soziokulturelle Perspektiven bieten uns Einblicke in die Art und Weise, wie wir uns selbst täuschen.
Psychodynamische Perspektive
Sigmund Freud und andere Psychodynamiker beschrieben erstmals
Selbsttäuschung durch Ich-Abwehrmechanismen (Corey, 2009; Freud, 1960, 1995; McWilliams, 2011). Diese psychologischen Strategien sollen unser Ego – unser rationales Selbstgefühl – vor Informationen
schützen, die uns
verletzen könnten. In der Sprache Freuds sollen sie uns helfen, ein starkes Ego aufrechtzuerhalten.
Einer der
häufigsten Abwehrmechanismen des Ichs ist die
Verleugnung. Sie tritt immer dann auf, wenn man sich
weigert, etwas Wahres zu glauben. Oft gilt: Je stärker man etwas leugnen möchte, desto wahrscheinlicher ist es, dass es wahr ist. Beispielsweise kann man nachdrücklich behaupten, kein Problem mit Intimität zu haben, obwohl man andere emotional auf Distanz hält. Man kann behaupten, einen gesunden Lebensstil zu führen, obwohl man raucht und sich kaum bewegt. Oder man kann sich weigern, anzuerkennen, wie das Umfeld in der Kindheit seine Fähigkeit, Gefühle auszudrücken, beeinflusst hat.
Eine weitere häufig verwendete
Verteidigung ist die
Rationalisierung. Dabei geht es darum, einen
Grund zu finden, um Aspekte Ihrer Person zu
entschuldigen, die Sie
inakzeptabel finden. Rationalisierung ermöglicht es Ihnen im Wesentlichen, sich besser zu fühlen, indem Sie Ihre Gedanken, Gefühle und Ihr Verhalten intellektuell rechtfertigen. Sie rechtfertigen beispielsweise eine Untreue gegenüber Ihrem Partner damit, dass Sie getrunken haben, wütend oder verletzt waren, weil er oder sie nicht genug Zeit mit Ihnen verbracht hat. Sie gehen vielleicht weiterhin mit jemandem aus, der nicht gut für Sie ist, indem Sie sich einreden, dass Sie verliebt sind, und rechtfertigen so Ihre Entscheidung zu bleiben. In der Schule reden Sie sich vielleicht ein, dass Sie nicht für Ihre Prüfung gelernt haben, weil ein Freund in der Stadt war, Sie eine Pause brauchten oder zu müde waren, um Ihre Notizen durchzusehen, um Ihre Schuldgefühle zu lindern.
Eine
dritte häufig verwendete
Abwehrstrategie ist die
Projektion. Dabei wird ein unerwünschter Aspekt der eigenen Person jemand anderem zugeschrieben. Anders ausgedrückt: Anstatt zuzugeben, dass man selbst etwas nicht mag, sieht man denselben Fehler bei jemand anderem. Projektion lässt uns oft als äußerst heuchlerisch erscheinen. Beispielsweise könnte man jemanden als Tratschtante beschuldigen, anstatt zuzugeben, dass man selbst tratscht. Man könnte sagen, man würde nie im betrunkenen Zustand jemanden spät abends anrufen, einen One-Night-Stand haben oder rassistische oder sexistische Gedanken hegen. Man weist jedoch schnell auf diese Verhaltensweisen anderer hin, um zu verschleiern, dass man sich mit seinem eigenen Verhalten unwohl fühlt.
Kognitiv-verhaltenstheoretische Perspektive
Aus kognitiv-verhaltenstheoretischer Perspektive können wir
Selbsttäuschung anhand unserer vielen
unlogischen oder
irrationalen Denkweisen verstehen (Beck, 1975; Burns, 1980; Ellis & Harper, 1975).
Prominente Theoretiker wie Aaron Beck und Alfred Ellis argumentierten, dass Menschen
gerne glauben, ihre Gedanken
spiegelten die
Realität genau wider.
Tatsächlich glauben die meisten von uns, in allem Recht zu haben, weil wir glauben, unsere Gedanken seien
wahr. Die
Wahrheit ist jedoch, dass unsere Gedanken die Realität
nicht genau widerspiegeln – sie sind oft unglaublich voreingenommen, verzerrt und auf charakteristische Weise ungenau, was unsere
Fähigkeit zur
Ehrlichkeit beeinträchtigt.
Selbsttäuschung, auch als verzerrtes Denken oder kognitive Verzerrungen bezeichnet (Beck, 1975; Burns, 1980; Ellis & Harper, 1975), entsteht oft durch verzerrte Denkmuster, die schmerzhafte Realitäten widerspiegeln, die wir nicht wahrhaben wollen (Warren, 2014c).
Eine häufige kognitive Verzerrung ist
emotionales Denken. Man geht davon aus, dass die eigenen Gefühle die aktuelle Realität genau widerspiegeln. Wenn man beispielsweise traurig ist, denkt man vielleicht: „Ich bin so deprimiert. Offensichtlich ist etwas in meinem jetzigen Leben der Grund für meine Traurigkeit“, anstatt zu bedenken, dass die eigene Emotion vielleicht mit einem ungelösten Problem aus der Vergangenheit zusammenhängt, das durch eine aktuelle Lebenssituation ausgelöst wird. Wenn man wütend auf jemanden ist, denkt man vielleicht: „Du hast mich wütend gemacht“, anstatt zuzugeben, dass es die Interpretation eines aktuellen Lebensereignisses ist, die im Grunde die Ursache für die emotionale Reaktion ist.
Eine weitere häufige Verzerrung ist die
Wahrnehmung einer
einzelnen negativen Lebenssituation als endlose
Abwärtsspirale. Diese wird als
Übergeneralisierung bezeichnet. Nach einer schlimmen Trennung denkst du vielleicht:
„Ich werde nie wieder jemanden kennenlernen. Es lohnt sich nicht einmal, es mit jemandem zu versuchen.“
Nach einem Streit mit deinem besten Freund denkst du vielleicht:
„Ich werde nie wieder Menschen nahe kommen, weil ich am Ende immer verletzt werde.“
...
Ehrlichkeit wählen und ehrlichere Lügner werden
Sich seiner
Selbsttäuschung zu
stellen, birgt ein inhärentes Dilemma; man kann sich nicht fragen, wie man sich selbst belügt, denn das würde erfordern, die
Wahrheit zu sagen. Angesichts der
unbewussten Natur der Selbsttäuschung ist es unglaublich schwierig,
ehrlich zu sein. Die Auseinandersetzung mit der Selbsttäuschung ist jedoch entscheidend für ein erfülltes und glückliches Leben auf lange Sicht. Im Folgenden finden Sie
fünf konkrete Vorschläge, um den
Prozess zu beginnen,
ehrlicher zu
sich selbst zu werden.
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