Deutsche Welle | 19.05.2024 | von Igor Burdyga und Iryna Ukhina
Konflikte Ukraine
Ukraine: Warum Selenskyj ohne Wahlen im Amt bleiben kann
Die Amtszeit des ukrainischen Präsidenten endet formell am
20. Mai. Wahlen hätten turnusgemäß im
März stattfinden sollen.
Juristen erklären, warum
Wolodymyr Selenskyj weiter regieren wird.
Am 20. Mai endet die formelle Amtszeit des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Ende März hätten die nächsten Präsidentschaftswahlen stattfinden sollen, aber das Parlament hat sie wegen des im Lande herrschenden
Kriegsrechts nicht angesetzt. Das Kriegsrecht verbietet alle Wahlen. Ende Februar, als Selenskyj eine Bilanz zu zwei Jahren Krieg mit Russland zog, bezeichnete er Versuche,
seine Legitimität in Frage zu stellen, als "feindliches Narrativ".
"Das ist nicht die Meinung westlicher Partner oder von irgendjemandem in der Ukraine, das gehört zum Programm der Russischen Föderation", betonte er vor Journalisten.
Sind Wahlen unter Kriegsrecht möglich?
Doch damit war die Diskussion nicht beendet. Die meisten ukrainischen Juristen erklärten, es sei ganz klar, dass Selenskyj seine Macht so lange behalte, bis ein neuer Präsident gewählt sei.
"Dies steht ganz klar in der Verfassung der Ukraine: Nach Ablauf einer Frist von fünf Jahren seit dem Tag der Amtseinführung enden die Befugnisse des Präsidenten nicht automatisch. Sie enden erst mit der Amtseinführung des neu gewählten Präsidenten, also erst nach Wahlen",
erläutert Andrij Mahera, Experte für Verfassungsrecht vom ukrainischen Centre of Policy and Legal Reform (CPLR), im Gespräch mit der DW. Doch sowohl Präsidentschafts- als auch Parlamentswahlen sind derzeit in der Ukraine verboten - jedoch auf unterschiedlicher Grundlage. Die
Verfassung verbietet die Parlamentswahlen, das
Kriegsrecht verbietet jedoch
alle Wahlen.
Forderung nach freiwilligem Rücktritt
Wahlen unter Kriegsrecht sind nicht nur verboten, um die Wähler vor Gefahren zu schützen.
"Es sind auch bestimmte verfassungsmäßige Rechte und Freiheiten eingeschränkt: zum Beispiel das Recht auf freie Meinungsäußerung, friedliche Versammlung und Bewegungsfreiheit. Deshalb ist es unmöglich, den Grundsatz des allgemeinen Wahlrechts und der freien Wahlen zu gewährleisten",
erklärt Andrij Mahera.
Ähnlich äußerten sich im März das
"Institut für Rechtsetzung und wissenschaftliche und rechtliche Expertise der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine" sowie die
Zentrale Wahlkommission des Landes.
An der Debatte beteiligen sich nicht nur aktive Juristen, sondern auch Veteranen der ukrainischen Politik. Wie beispielsweise
Hryhorij Omeltschenko, der Mitte der 1990er Jahre als
Parlamentarier der
Kommission zur
Ausarbeitung der Verfassung angehörte. Er betont, es sei kein Versäumnis, dass es keine direkte Regelung zur Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten gebe. Dies sei sogar eine bewusste Absicherung.
In einem
offenen Brief an Selenskyj, der im März von der
Zeitung Ukrajina Moloda veröffentlicht wurde, fordert er den Präsidenten
dennoch auf,
"die Staatsmacht nicht zu usurpieren", also
nicht an sich zu
reißen und im
Mai 2024 freiwillig
zurückzutreten.
...
[Links nur für registrierte Nutzer]