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Dabei wird übersehen, dass die Ukraine neben Weißrussland der Hauptschauplatz des deutsch-sowjetischen Krieges war, die Ukraine war komplett von Deutschen besetzt und ausgebeutet. Dort waren die größten Lager für sowjetische Kriegsgefangene, die man zu Hunderttausenden hat verhungern lassen; von dort stammte die Masse der ins Deutsche Reich deportierten Ostarbeiter; dort waren an Orten wie Babij Jar die Hauptschauplätze der Ausrottung der osteuropäischen Juden.
Ich schreibe gerade einen Essay über Kiew, vor dem Krieg eine Millionenstadt. Dort lebten im Herbst 1943 nur noch 180.000 Menschen, das muss man sich mal vorstellen. Wir wissen sehr viel über die Hungerblockade Leningrads, aber kaum etwas über die Situation in Kiew, Charkiw oder Stalino, das heutige Donezk. Die flächendeckende Zerstörung der Industrie im Donbass – übrigens an denselben Orten, die von den Separatisten verwüstet werden –, die Sprengung der Staudämme und Kraftwerke, die Entvölkerung der Krim, die nach Kriegsende und nach Stalins Deportation der Krimtataren praktisch neu besiedelt werden musste – all das kommt im deutschen Narrativ vom „Krieg gegen Russland“ gar nicht vor. Und wer interessiert sich in Deutschland schon für den Terror und die Katastrophe, die die Ukraine vor dem Krieg erleiden musste: die Hungersnot 1932/33 im Zuge der Kollektivierung, die mehr als drei Millionen Tote gefordert hat, oder wer spricht von den Stalin‘schen Säuberungen, in denen die nationale Elite vernichtet wurde?
Es waren nicht nur „die Russen“, die gegen Hitler gekämpft haben, und es waren nicht nur „russische Soldaten“, die in den ostdeutschen Kasernen stationiert waren. Das alte Sowjetreich existiert nicht mehr. Aus seiner Auflösung sind souveräne Staaten hervorgegangen, neben der Russländischen Föderation auch die Ukraine. Putin tut sich schwer mit dem Verlust, viele tun sich schwer damit, was ich sehr gut verstehe. Dass die Auflösung eines Imperiums besonders schwierig und schmerzhaft ist, das ist für jeden einsichtig. Ich kann sogar die Aussage Putins über das Ende der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ in einem gewissen Sinne nachvollziehen. Ich kann nachvollziehen, was damit gemeint ist.