Ein jüdischer Staat
Wenige Monate zuvor, im November 1947, hatten die Vereinten Nationen (UN) eine Resolution zur Teilung Palästinas verabschiedet. Zehntausende Jüdinnen und Juden waren erst kürzlich in Palästina angekommen, nachdem sie dem industriellen Massenmord der Nazis entkommen waren. Europäische Jüdinnen und Juden hatten dort bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts in Kolonien gelebt, nachdem sie vor antisemitischer Verfolgung geflüchtet waren. Allerdings, wie der Sozialist Tony Cliff, als Jude in Palästina geboren und aufgewachsen, schrieb: »Die Juden waren furchtbar unterdrückt, das war aber keine Garantie dafür, dass sie fortschrittlich oder revolutionär wurden« (Zitiert nach: »Worin wurzelt Israels Gewalttätigkeit?« von Tony Cliff).
Diese koloniale Bewegung – der Zionismus – versuchte, einen ausschließlich jüdischen Staat in ganz Palästina aufzubauen. Die Palästinenserinnen und Palästinenser, die bereits dort lebten, mussten dazu gebracht werden, das Land zu verlassen. Die Zionistinnen und Zionisten suchten die Unterstützung von imperialistischen Mächten, um ihr Ziel zu erreichen. Großbritannien – das Palästina seit Ende des Ersten Weltkriegs besetzt hielt – unterstützte die Zionistinnen und Zionisten, die dabei halfen, die Palästinenser unter Kontrolle zu halten und sie zu unterdrücken. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann das britische Reich zusammenzubrechen. Es sah sich nicht mehr in der Lage, die militanten Kräfte, denen es dabei geholfen hatte, in dem Land Wurzeln zu fassen, in Zaum zu halten, und begann mit dem Abzug aus dem Land.
Die UN beschlossen die Teilung Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen Teil. Über fünfzig Prozent Palästinas wurden dem zukünftigen Israel zugesprochen, obwohl Jüdinnen und Juden nur knapp ein Drittel der Bevölkerung ausmachten und nicht mehr als zehn Prozent des Landes besetzten. Ein ausschließlich jüdischer Staat aber brauchte auch eine jüdische Mehrheit.
Deir Yassin, die Vertreibungen und der »Plan Dalet«
Der Zionistenführer David Ben-Gurion, der Israels erster Ministerpräsident wurde, äußerte sich besorgt in einer Rede Ende 1947: »Es gibt vierzig Prozent Nichtjuden in den Gebieten, die für den jüdischen Staat vorgesehen sind. Solch ein demografisches Verhältnis stellt unsere Fähigkeit infrage, jüdische Souveränität aufrechtzuerhalten. Nur ein Staat mit mindestens achtzig Prozent Juden ist ein lebensfähiger und stabiler Staat« (Zitiert nach: »Die ethnische Säuberung Palästinas« von Ilan Pappe / Englische Version Seite 48).
Ben-Gurion entwarf zusammen mit anderen zionistischen Führern einen Plan: Nachrichtenoffiziere der paramilitärischen zionistischen Organisation Haganah sammelten genaueste Informationen über alle arabischen Dörfer und Städte. Palästinensische Gebiete wurden in Zonen aufgeteilt, die bestimmten Haganahbataillonen unterstellt wurden. Aus jedem palästinensischen Ort, der in diesen Zonen zwischen isolierten jüdischen Siedlungen lag, musste die arabische Bevölkerung verschwinden. Wo arabische Ortschaften einen Friedenspakt mit benachbarten jüdischen Siedlungen geschlossen hatten – so wie Deir Yassin –, wurde den Milizen der Irgun und Lehi unter der Hand erlaubt, das Gebiet zu übernehmen. Mit dem Fortschreiten der Vertreibung wurde die zionistische Führung entschlossener und ihre Begeisterung wuchs:
»Wenn ich nach Jerusalem komme, spüre ich, dass ich in einer jüdischen Stadt bin«,
sagte Ben-Gurion im Februar 1948. »In vielen arabischen Stadtvierteln im Westen ist kein einziger Araber mehr zu sehen. Ich denke nicht, dass sich das ändern wird. Und was in Jerusalem und Haifa möglich war, das kann auch in großen Teilen des Landes geschehen. Wenn wir nicht nachlassen, ist es durchaus möglich, dass es in den kommenden sechs oder acht Monaten erhebliche Veränderungen im Land geben wird, sehr erhebliche, und dies zu unserem Vorteil«
(Zitiert nach:
»Die ethnische Säuberung Palästinas« von Ilan Pappe / Englische Version Seite 68).
Im März wurde ein solider Plan entworfen – Plan Dalet –, in dem kein Zweifel gelassen wurde über das Schicksal der arabischen Ortschaften:
»Diese Operationen müssen auf folgende Weise ausgeführt werden: Zerstörung der Ortschaften (indem sie in Brand gesetzt, gesprengt und Minen in den Schutt gelegt werden)«,
hieß es da.
»Im Fall des Widerstands müssen die bewaffneten Kräfte ausgelöscht werden und die Bevölkerung muss über die Grenzen des Staats vertrieben werden.«
Der israelische Historiker Ilan Pappe sprach aus, was dieser Plan bedeutete: Er war eine Blaupause für ethnische Säuberungen. Deir Yassin gehörte zu den ersten Orten, die entsprechend dem Plan Dalet gesäubert wurden. Zu diesem Zeitpunkt waren schon 75.000 Palästinenser zu Geflüchteten geworden – einige Monate bevor Großbritannien das Land verlassen hatte. Die britischen Streitkräfte in Palästina waren doppelt so stark wie die Haganah und hätten die Massaker leicht verhindern können. Stattdessen fanden die ethnischen Säuberungen unter den Augen der Besatzungsmacht statt. Erst Tage später schickten die Briten einen Polizeioffizier nach Deir Yassin, unweit der Hauptstadt Jerusalem, um die Angelegenheit zu untersuchen. Er wurde von der Haganah daran gehindert.
Erst Vertreibung, dann Vertuschung
Nach den
anfänglichen Prahlereien versuchten die zionistischen Kräfte nun zu
vertuschen, was sie getan hatten. Selbst
heute noch sorgt der
israelische Staat dafür, dass Fotografien von dem Massaker fest unter Verschluss in den Archiven bleiben. Der Haganahoffizier Shraga Peled, der die Fotos gemacht hatte, erinnert sich jedoch noch sehr deutlich:
»Als wir nach Deir Yassin kamen, sahen wir als Erstes einen großen Baum, an den ein junger Araber gebunden war«,
erzählt er in Shoshanis Film.
»Dieser Baum wurde angezündet. Sie hatten ihn dort angebunden und verbrannt. Ich habe das fotografiert.«
Während damals das Massaker gefeiert wurde, versucht das israelische Establishment es heute zu vertuschen – aus gutem Grund. Die
Milizen, die das Massaker begangen hatten, gründeten schließlich die
Armee Israels. Der Kommandeur der Irgun,
Menachem Begin, wurde später israelischer Ministerpräsident. Die Erinnerung an Deir Yassin wird in Israel verdrängt, weil es die Schrecken zeigt, aus denen dieser Staat geboren wurde.
Zum Artikel: Der Artikel erschien am
24. 3. 2018 in der englischen Zeitung
»Socialist Worker«. Wir danken
»Socialist Worker« für die Genehmigung zur Veröffentlichung und Rosemarie Nünning für die Übersetzung.
https://www.marx21.de/das-massaker-von-deir-yassin/