Eine besondere Rolle spielte während des Nürnberger Prozesses das Geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939. In diesem Geheimdokument, das nur eine Woche vor Kriegsausbruch unterzeichnet worden war, hatten sich Berlin und Moskau auf eine vierte Teilung Polens sowie die Aufteilung ganz Osteuropas in eine deutsche und eine sowjetische Interessensphäre geeinigt. Diese Pläne setzten einen gemeinsamen Krieg gegen Polen voraus, das heißt, die politische Führung der Sowjetunion machte sich zusammen mit der deutschen politischen Führung der Planung und Durchführung eines Angriffskrieges schuldig. 
 
Das Geheime Zusatzprotokoll wurde im Verlauf des Prozesses von den
Verteidigern Dr. Martin hörn und Dr. Alfred seidl zur Sprache gebracht, der
Internationale Militärgerichtshof lehnte aber mit Rücksicht auf die Sowjetuni-
on - die ja mit am Richtertisch saß - jede weitergehende Erörterung ab. Aber
noch während des Prozesses, am 22. Mai 1946, veröffentlichte die amerikani-
sche Zeitung 
Saint Louis Post Dispatch den Wortlaut des Protokolls, andere westliche Zeitungen folgten.
 
Die Diskussion um das Geheime Zusatzprotokoll fiel in eine Zeit, in der die
Interessengegensätze zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion
rasch eskalierten und schließlich zum Kalten Krieg führten. Der neue amerika-
nische Präsident Harry S. truman wandte sich von roosevelts Konzeption ei-
ner langfristigen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion ab und verfolgte statt
dessen eine Politik der Konfrontation, der »Eindämmung« sowjetrussischer
Expansionsbestrebungen. Die Politik trumans bedeutete nicht weniger als ei-
nen politischen Kurswechsel um 180 Grad, der sich auf allen Gebieten der ame-
rikanischen Außenpolitik auswirken sollte.
 
Im Januar 1948 veröffentlichte das amerikanische Außenministerium, das
Department of State, eine Auswahl erbeuteter deutschen Akten zu den deutsch-
sowjetischen Beziehungen 1939-1941; in diesem Dokumentenband war unter
anderem auch das Geheime Zusatzprotokoll enthalten.
9 Diese regierungsamt-
liche Publikation erschien zwar ohne Kommentar, aber sie legte unzweideutig die Schlußfolgerung nahe, daß die Sowjetunion an der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges maßgeblichen Anteil hatte.
Die Sowjetregierung verstand die amerikanische Absicht sehr genau, denn sie reagierte umgehend mit der Publikation [k]
Geschichtsfälscher[/k]
, in der sie die Existenz des Geheimen Zusatzprotokolls leugnete.10   
 
Elf Jahre später begnügten sich der amerikanische Präsident Dwight D. eisen-
hower und sein Außenminister John Foster dulles nicht mehr mit Andeutun-
gen. Anläßlich einer neuerlichen Krise um das geteilte Berlin gab das State
Department am 7. Januar 1959 die Analyse einer kurz zuvor veröffentlichten
sowjetischen Berlin-Note heraus. In dieser Stellungnahme heißt es in aller Deut-
lichkeit:
»In der Zeit von 1930 bis 1933 gab die Sowjetunion über ihren internationa-
len kommunistischen Apparat, die Komintern, der Kommunistischen Partei
Deutschlands Anweisung, mit den Nazis und anderen Extremisten bei der
Unterminierung der deutschen Weimarer Republik zusammenzuarbeiten. Sie
half mit, demokratische Parteien und Institutionen zu sabotieren, und leistete
der Mißachtung von Recht und Ordnung Vorschub. Dies kam hitler bei sei-
nem Aufstieg zur absoluten Macht zugute.«
 
Zum Kriegsausbruch 1939 stellt das State Department fest:
»Die UdSSR zog sich im August 1939 von den Verhandlungen mit Großbri-
tannien und Frankreich zurück, um die Molotow-Ribbentrop-Abkommen abzuschließen, die die für eine koordinierte nazistisch-sowjetische Aggression in Osteuropa erforderlichen Garantien enthielten und den Zweiten Weltkrieg auslösten.«11
 
Die britische Regierung schloß sich der amerikanischen Position an und er-
klärte noch im selben Monat, daß der Molotow-Ribbentrop-Pakt »den Aus-
bruch des Weltkrieges unvermeidlich machte«.12
 
Washington und London rückten damit regierungsamtlich von der Nürn-
berger These von der alleinigen Schuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg ab und bezichtigten die Sowjetunion der Mittäterschaft. 
 
Die Sowjetführung reagierte umgehend und modifizierte nun ebenfalls die
Nürnberger These. Bereits am 9. Februar 1946, also noch während des Nürn-
berger Prozesses, hatte stalin in einer Rede erklärt:
»Es wäre falsch zu glauben, daß der Zweite Weltkrieg zufällig oder infolge von Fehlern dieser oder jener Staatsmänner entstanden sei, obgleich es unbestreitbar Fehler gegeben hat. In Wirklichkeit war der Krieg ein unvermeidliches Ergebnis der Entwicklung der wirtschaftlichen und politischen Weltkräfte auf der Basis des modernen Monopolkapitalismus.«13 
 
Mit anderen Worten, Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges waren
nicht einzelne Staatsmänner oder Staaten, sondern das kapitalistisch-imperia-
listische System. …