II. Der Islam als religiös-weltanschaulicher Code einer absoluten Herrschaftsordnung
Der Islam ist nicht einfach nur eine „Religion“ bzw. ein privates Glaubenssystem, sondern er verkörpert eine allumfassende monotheistische Weltanschauung mit absolutistischem Geltungsanspruch, die gleichermaßen als politische Herrschaftsideologie, Rechtssystem und Alltagsethik in Erscheinung tritt. Die Gesetze Allahs als dem einzigen und allmächtigen Schöpfer der Welt und des Menschen, die im Koran ewig und endgültig festgelegt sind, beinhalten folglich nicht etwa nur spirituelle Aussagen und rituelle Hinweise, sondern Regeln, Vorschriften und Hinweise für alle Lebensbereiche, denen der Gläubige unbedingt zu folgen hat. „Islam“ bedeutet damit Unterwerfung unter den Willen Allahs in allen Lebensfragen wie Tagesablauf, Ernährung, Kleidungsordnung, Geschlechterbeziehungen als Ausdruck von rechtgläubiger Moral, politisches, wirtschaftliches und soziales Handeln, das Verhalten gegenüber einer nichtmuslimischen Umwelt etc. Die alltagspraktische Befolgung der Gottesgesetze ist der wahre Gottesdienst der gläubigen Muslime und bildet den eigentlichen Kern des gesamten Islam = Hingabe an Gott.
„Wer folglich denkt, der Islam sei [nur] ein Glaube und nicht auch ein System (eine Ordnung=nizām), ist töricht und weiß nichts vom Islam“ (Abd al-Qadir `Udah, ein konservativer Anhänger der ägyptischen Muslimbrüder. Zit. n. Antes 1991, S. 59).
„Der Islam war schon immer totalitär. Er beherrschte praktisch jeden Gedanken und jede Handlung der Gläubigen. Für dieses Verhältnis stand symbolisch zum Beispiel das Hersagen der Bismillah auch während der unwichtigsten Tätigkeit ebenso wie die allumfassende Bedeutung der Überlieferungen. Jegliche Handlungen, selbst diejenigen, die äußerst fundamentalen biologischen Bedürfnissen entsprechen wie Defäkation oder Koitus, wurden durch religiöse Vorschriften bestimmt. Selbst gesellschaftliche Handlungen, die in anderen Kulturen für außerhalb der Religion stehend angesehen werden, seien sie technischer, wirtschaftlicher oder künstlerischer Natur, wurden in das System integriert und religiös ausgelegt. Jegliche Handlung, Einrichtung, selbst jeglicher Gedanke, der dem System fremd war, wurde entweder abgelehnt oder, wenn dies nicht möglich war, eingegliedert und islamisiert“ (Rodinson, zit. n. Gopal 2006, S. 411f.).
Indem der Islam in seiner orthodoxen Grundgestalt als allumfassendes Herrschafts- und Ordnungskonzept mit absolutem Gültigkeitsanspruch auftritt, ist er per se durch und durch politisch, d. h. auf die umfassende Regelung und Normierung zwischenmenschlicher Handlungen ausgerichtet. Die Rede vom „politischen Islam“ ist demnach ein „weißer Schimmel“ und suggeriert die unhaltbare Annahme der objektiven Existenz eines „unpolitischen Islam“.
Aus kritisch-gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive lässt sich der Islam bzw. das islamische Bedeutungssystem bei näherer Betrachtung als die ‚Programmiersprache’ bzw. ‚Grammatik’ einer kulturspezifischen Herrschaftsordnung begreifen. D. h.: Der Islam fungiert als ideelle Begründungs-und Legitimationsbasis für eine kulturspezifische Form zwischenmenschlicher Herrschaftsverhältnisse. Dabei bilden der Koran, die Hadithsammlung, die Scharia (in Form von vier Rechtsschulen) sowie die dominanten Auslegungsdogmen der Religionsgelehrten die objektiven Grundquellen dieses herrschaftskulturellen Programmiersystems. Der Islam ist demnach zu bestimmen als ideelles Begründungssystem der Hervorbringung und erweiterten Reproduktion einer spezifischen zwischenmenschlichen Herrschaftsordnung sowie der dazu passenden selbstentmächtigenden und unterwerfungsbereiten Subjektivität.
Im Einzelnen sind die folgenden wesentlichen Knotenpunkte der historisch gewachsenen islamischen Herrschaftskultur als ....