Abwehrsystem für USA und Europa: Pentagon-Sparpläne reißen Loch in Raketenschutzschirm
Nordkoreanische  Soldaten marschieren im Stechschritt, in Iran steht  eine schussbereite  Rakete, eine syrische Stadt liegt in Trümmern. Aus  dem Off spricht eine  sonore Stimme: "Die Bedrohung durch ballistische  Raketen wächst. Bis  2018 könnte ganz Europa bedroht sein."
Aber da das Video vom  US-Rüstungskonzern Raytheon stammt, geht alles  gut aus. Eine Radaranlage  an Land erfasst die Rakete und gibt die  Zieldaten an Aegis-Schiffe der  Nato weiter. Eine deutsche Fregatte  startet eine SM-3-Abwehrrakete - und  die Bedrohung ist Geschichte.  "Raytheons bewährte Systeme zur Abwehr  ballistischer Raketen bieten  weltweiten Schutz", sagt die Stimme aus dem  Off. "Sie sind echt,  erprobt und schon heute im Einsatz." Die USA und  ihre Verbündeten seien  sicher.
Das Problem mit dem Video, das  diese Woche zur Luftfahrtshow in Le  Bourget veröffentlicht wurde: Es  verspricht bei weitem zu viel.
Der Grund ist der Pentagon-Etat  für 2014, der kürzlich veröffentlicht  wurde: Die Finanzierung für ein  Satellitensystem, das anfliegende  ballistische Raketen während ihres  Flugs durch den Weltraum verfolgen  sollte und damit von zentraler  Bedeutung war, ist gestrichen. Für  dieses Jahr waren noch 242 Millionen  Dollar für die Entwicklung  vorgesehen, für 2014 waren 268 Millionen  Dollar angefragt - doch die  fehlen im neuen Etat. Die USA und  insbesondere die Europäer stünden  nach Meinung von Experten weitgehend  schutzlos da, sollte die  US-Regierung ihre Sparpläne umsetzen.
Nach  dem Start befindet sich eine ballistische Rakete in der  sogenannten  Boost-Phase, in der die Triebwerke etwa drei Minuten lang  brennen und  die Rakete ins All bringen. Danach fliegt das Geschoss in  einer Höhe von  150 bis 400 Kilometern minutenlang ballistisch - also  ohne Antrieb -  durch den Weltraum. Am Ende dieser Freiflug- oder  Midcourse-Phase, dem  längsten Abschnitt des gesamten Fluges, tritt der  Sprengkopf in die  Atmosphäre ein und rast in der Endphase auf sein Ziel  zu.
In der  Boost-Phase erfassen zunächst geostationäre Satelliten mit ihren   Infrarotsensoren die gewaltige Hitzeentwicklung des Antriebs.  Allerdings  schweben diese Satelliten mehr als 30.000 Kilometer hoch  über der Erde,  eine Berechnung des Kurses der Rakete ist deshalb nur  grob möglich.  Während der Freiflug- oder Midcourse-Phase sollten die  niedrig  fliegenden Satelliten des jetzt gestrichenen, sogenannten  Precision  Tracking Space System (PTSS) mit ihren Infrarotsensoren das  Geschoss im  Auge behalten.
Dadurch wäre ein Abschuss schon im All möglich.  Eine Abfangrakete würde  ein sogenanntes Kill Vehicle aussetzen, das sich  dem Atomsprengkopf in  den Weg stellt. Da er mit rund 25.000 km/h durch  den Weltraum fliegt,  würde der Aufprall ihn pulverisieren. Allerdings  muss das "Kill  Vehicle" dafür auf den Meter genau positioniert werden -  eine enorme  technische Herausforderung. Verliert man die Rakete während  der  Freiflugphase aus den Augen, halten Experten einen Abschuss für kaum   noch möglich.
"Ehe man sich versieht, ist alles vorbei"
Die  grobe Kursberechnung durch die geostationären Satelliten in der   Boost-Phase "wird kaum reichen, um dem Suchradar und den Abwehrraketen   im Zielgebiet genaue Koordinaten zu geben", sagt der Münchner   Raketenexperte Robert Schmucker. Damit werde auch ein   Last-Minute-Abschuss des Sprengkopfs schwierig: Tritt er in die Endphase   seines Anflugs ein, muss das Abwehrradar ihn erst wieder finden. "Das   alles braucht Zeit, die im Ernstfall kaum zur Verfügung stehen dürfte",   sagt Schmucker. Von Iran aus bräuchte eine ballistische Rakete  insgesamt  nur 15 bis 20 Minuten, ehe sie Westeuropa treffe. "Ehe man  sich  versieht, ist alles vorbei."
Hinzu kommt ein weiteres Problem:  Die Oberstufe einer Atomrakete ist  keinesfalls steuerlos. Sogenannte  Vernier-Triebwerke können den Kurs  kurz vor und während der  Freiflugphase im All noch beträchtlich  beeinflussen. Das kann den  Einschlagsort des Projektils dramatisch  verschieben, heißt es in einer  internen Studie, die SPIEGEL ONLINE  vorliegt - im Extremfall um fast 700  Kilometer.
Dass Staaten wie Iran und Nordkorea über die  Vernier-Technologie  verfügen, gilt als sicher. "Ballistische Raketen mit   Vernier-Triebwerken gibt es bereits seit den sechziger Jahren", sagt   ein Insider. Diverse Fotos belegten, dass etwa die iranische   Satelliten-Trägerrakete "Safir" exakt die gleichen Vernierdüsen besitzt   wie das alte sowjetischen R27-Aggregat, das von 1968 bis 1988 im  Einsatz  war. Der Wegfall der Zielverfolgung in der Midcourse-Phase ist  deshalb  nach Ansicht des Industriefachmanns "ein Riesenproblem für  Europa und  die USA". Ohne die PTSS-Satelliten "ist die gesamte  Raketenabwehr  unwirksam".
"Wettrüsten war auch nicht logisch"
Zu einer  ähnlichen Einschätzung kam 2001 auch das Pentagon. "Die  Bedeutung einer  verlässlichen Midcourse-Ortung kann nicht genug betont  werden", heißt es  in einer Studie. Die Ortung anfliegender Raketen  allein durch  geostationäre Satelliten und Radaranlagen reiche nicht aus  - erst recht  nicht mit den bestehenden Systemen.
Zwar haben Kritiker in den  vergangenen Jahren immer wieder betont, dass  man sich die ganze  Raketenabwehr sparen könnte: Sie werde prinzipiell  nie hundertprozentige  Sicherheit bieten, und außerdem wären weder Iran  noch Nordkorea  verrückt genug, den Westen offen mit Atomraketen  anzugreifen.
Andere  Fachleute aber wenden ein, dass eine derartige Argumentation in  die  Irre führen könnte. "Das Wettrüsten im Kalten Krieg war auch nicht   logisch", meint Schmucker. Die Raketenabwehr sei als Kommunikation mit   technischen Mitteln zu verstehen - ähnlich wie im Kalten Krieg. Ein   funktionierendes Raketenabwehrsystem könnte aufstrebende Staaten im   Idealfall vom Bau der Atomwaffen abbringen, die dann keinerlei   Drohpotential mehr versprächen.
Ein Mitarbeiter des deutschen  Satellitenherstellers OHB System wollte  sich zunächst nicht zu den  Details der Nato-Raketenabwehr äußern. Doch  auch er glaubt, dass die  Fähigkeiten Irans oder Nordkoreas derzeit noch  sehr begrenzt seien. Wenn  diese Länder allerdings ein ernsthaftes  Testprogramm verfolgten - wovon  viele Fachleute ausgehen -, wäre in den  kommenden Jahren mit  Fortschritten zu rechnen.
"Dann würden sich diese Länder  natürlich auch mit einer westlichen  Raketenabwehr beschäftigen", sagt  der OHB-Mann. "Und sie werden ihre  Systeme garantiert nicht passend für  unsere Abwehr-Architektur  designen, sondern die Lücken suchen." Eine  solche könnte das Fehlen des  PTSS-Systems sein - zumal die  Vernier-Triebwerke bereits heute in Iran  und in Nordkorea vorhanden  sind. "Die Sollbruchstelle des  Abwehrsystems liegt in Europa."
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