Ossietzky / Ausgabe Oktober 2023 / von Hans-Dieter Waldrich
Warum Russland siegen sollte
Man kann sich alles Mögliche wünschen, aber der Wunsch, im Ukrainekrieg möge Russland
siegen, ist Ketzerei. Im Mittelalter hätte so etwas am Galgen oder auf dem Scheiterhaufen geendet. Heutzutage bleibe ich höchstwahrscheinlich am Leben. So gesehen hat sich einiges geändert seit dem Mittelalter.
Nicht geändert hat sich etwas anderes: nämlich die
Unfähigkeit, über jenen Tellerrand zu blicken, der von der
Dogmatik vorgegeben wird. Und diese lautet gegenwärtig so:
Putin hat sich in einen völkerrechtswidrigen Krieg verwickelt. Daraus ist nur eine mögliche Schlussfolgerung zu ziehen, nämlich dass Russland mit Waffengewalt in seine Schranken zu weisen ist. Koste es, was es wolle.
Und das ist der Punkt. Denn ich frage:
Was könnte es kosten?
Groß ist die Zufriedenheit, dass die russischen Streitkräfte offenbar weit weniger erfolgreich sind, als zunächst anzunehmen war. Und so haben wir schon längst jenen
tragischen Heroismus übernommen, der in der Ukraine
aktuell verbreitet zu sein scheint. Eine von der Münchner Sicherheitskonferenz in Auftrag gegebene Umfrage in der Ukraine, die im Februar bekannt wurde, besagt, dass
89 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer selbst dann entschlossen weiterkämpfen wollen, wenn Russland
Nuklearwaffen einsetzen würde. Bevor auch die Krim nicht wieder ukrainisch ist, sind sie
nicht bereit, aufzuhören.
Mir wird ganz anders, wenn ich so etwas höre. Natürlich ist es verständlich, wenn ein überfallenes Volk vor Wut und Empörung nur noch schäumt. Doch müssen wir solch
blinde Emotionalisierung übernehmen?
Geht es nicht gerade jetzt darum, die
Sachlage so nüchtern wie möglich zu
beurteilen? Mich interessiert daher vor allem, was die sogenannten
Neorealisten in der
Wissenschaft von den
internationalen Beziehungen zu dieser Angelegenheit zu
sagen haben.
Einer ihrer prominentesten Vertreter ist der ehemalige US-Luftwaffenoffizier und Professor an der Chicagoer Universität
John Mearsheimer. Die
Neorealisten gehen von der
Voraussetzung aus, dass
Großmächte, auch solche, die es gerne wären, in erster Linie daran interessiert sind, ihre
Macht zu
erweitern und zu
erhalten.
Am
gefährlichsten werden sie dann, wenn sie sich in einer
Situation der
Schwäche befinden.
Gekränkt und in ihrem Stolz
verletzt, schlagen sie in einer solchen Lage oft nur noch
wild um sich. Dafür gibt es Beispiele.
Mearsheimer hält deshalb überhaupt
nichts davon,
Russland Schritt für Schritt in die Enge zu treiben und Verhandlungen möglichst weit hinauszuschieben. Der Gedanke,
Russland bzw. seine
Eliten gewissermaßen
öffentlich in die
Knie zu
zwingen, damit sie vor den
Augen der
Welt mit einem
Winseln den Geist
aufgeben, ist ja auch
tatsächlich genau jene
kollektive Angstvorstellung, die aus
russischer Sicht auf gar keinen Fall
Realität werden darf.
Russland ist eine Nation, die sich durch den
Zerfall der Sowjetunion und durch die
Dominanz der
USA gedemütigt fühlt.
»Moralisch« gesehen ist das irrelevant, da es kein völkerrechtswidriges Verhalten rechtfertigt. Der Blick durch die Moralbrille ist aber
nicht in unserem eigenen Interesse. Uns bleibt verborgen, wie der
Gegner, der unsere Brille
nicht aufhat, mit
hoher Wahrscheinlichkeit reagieren wird.
Mearsheimer hält es für naheliegend, dass die
weitere Demütigung Russlands zu einem letzten Aufbäumen führen wird. Weshalb sollte
Russland dabei nicht auf
jene Waffensysteme zurückgreifen, die es in letzter Zeit
besonders perfektioniert hat und auf die es besonders stolz ist: nämlich auf seine
Nuklearwaffen?
Bevor Putin und seine Entourage den Löffel abgeben, könnten sie durchaus ein Ende mit Schrecken inszenieren. Weshalb glauben wir so unbedingt daran, dass das auf keinen Fall passieren wird? Mir fällt kein triftiges Argument ein, jedenfalls keines, das nicht auf wackeligen Füßen steht. Wollen wir unser eigenes Überleben von wackeligen Argumenten abhängig machen?
»Für mich und die meisten meiner Freunde des realistischen Ansatzes in der Politikwissenschaft«, so Mearsheimer kürzlich in einem Interview auf der US-Nachrichtenwebsite RealClearPolitics, »ist es ganz klar, dass man äußerst vorsichtig sein muss, wenn man es mit einer rivalisierenden Großmacht zu tun hat, die bis an die Zähne mit Atomwaffen bewaffnet ist, die auf einen selbst gerichtet sind.
Und dass man diese Macht nicht in die Ecke drängen darf. Man sollte sie nicht in eine Situation bringen, in der ihr nur noch die Verzweiflung bleibt. Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass je erfolgreicher die Nato und die Ukrainer darin sind, die Russen in der Ukraine zu besiegen und die russische Wirtschaft zu zerstören, je erfolgreicher wir sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie Atomwaffen einsetzen werden.«
Müsste man auch Mearsheimer auf den Scheiterhaufen zerren, weil er zur
Zurückhaltung mahnt?
Auch er rennt gegen eine
pseudo-moralische Dogmatik an, die mit keiner realistischen Überlegung mehr zu rechtfertigen ist. Definieren wir Realismus als die kluge Berücksichtigung eigener Überlebensinteressen, dann ist die gegenwärtige westliche Politik eher halsbrecherisch, ja
suizidal.
Dabei kommt es gar nicht darauf an, wie wir die Sache
selbst einschätzen,
alles hängt davon ab, wie es
Russland sieht.
Breitbeinig behaupten wir, die Nato-Osterweiterung brauche doch niemanden zu beunruhigen. Der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg besucht im April die Ukraine und verkündet lauthals: »Der Ukraine steht ein Platz in der Nato zu!« So
triggert man wunde Punkte.
Im spanischen Stierkampf übernehmen sogenannte Banderilleros diese Rolle. Sie rammen dem Stier Speere in den Rücken, bis der nur noch rotsieht. Schärfer kann man den Pfahl überhaupt nicht mehr zuspitzen, der im Fleisch Russlands steckt. Fast könnte man meinen, Herr Stoltenberg fiebere den Riesenknall herbei.
Warum also hoffe ich, Russland soll siegen?
Gewiss nicht, weil ich Putin »verstehe«. Ich verstehe ganz und gar nicht, wie man ein ganzes Volk, ja, letztlich die Welt als Geisel nehmen kann, um einen wahnhaften Herrschaftsanspruch durchzusetzen. Putins autokratischer Cäsarismus, die russische Kleptokratie der Oligarchen und Machtberauschten widern mich an.
Aber
mein eigenes Leben, vor allem
dasjenige meiner Lieben, und letztlich die Sorge um den
Planeten sind für mich
Werte, die
höher stehen als
westliche Rechthaberei im Dienste einer
absteigenden Weltmacht auf der anderen Seite des Atlantiks.
Das Ende des Krieges
ohne finale Weltkatastrophe kann ich mir also lediglich als
russischen Sieg vorstellen.
Und dieser ist eigentlich nur denkbar, wenn dem Westen die Puste ausgeht. Ist der letzte unglückliche Ukrainer an den Fronten verheizt worden, macht auch die Nachlieferung von Tötungsgeräten keinen Sinn mehr und die Waffen schweigen.
Die Nato stünde dann entweder vor der Entscheidung,
direkt und
selbst einzugreifen und damit den
Weltuntergang einzuleiten oder – ja, was wäre die Alternative? Sie bestünde darin, den Russen die bereits angeeigneten Gebiete, den Donbass und die Krim, zu
überlassen. Darauf läuft es hinaus oder eben auf den ganz großen Kladderadatsch.
Mearsheimer übrigens scheint folgende Variante für recht
wahrscheinlich zu halten: In letzter Verzweiflung wird Putin die Ukraine mit
Nuklearwaffen bepflastern. Jetzt kommt es darauf an, wie die USA und also die Nato
reagieren werden. Mearsheimer hofft auf den ganz großen Schock, eine um sich greifende Angst, die eine Art
Katharsis auslöst.
Der
gewaltige Schreck könnte jene
Läuterung bewirken, die jetzt schon hilfreich wäre, aber im
Westen durch eine Art
moralischen Narzissmus verdeckt wird. In ihrem berühmten Manifest, in dem sie vor dem Atomkrieg warnten, definierten die Nobelpreisträger
Bertrand Russell und
Albert Einstein 1955, auf was eine solche
Läuterung hinauslaufen würde:
»Erinnert euch Eures Menschseins und vergesst alles andere!«
Eine mehr als naheliegende Einsicht, so etwas wie die Quintessenz des Humanismus. Da sich
Humanität zurzeit aber kaum ohne die
atomare Zerstörung wenigstens der Ukraine
durchsetzen wird, halte ich einen
russischen Sieg für die
bessere Lösung.
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