Umfragen in einem Land, das sich im Krieg und unter Kriegsrecht befindet, sind schwierig. Im Fall der Ukraine kommt hinzu, dass viele Bürger nicht gefragt werden, weil sie in den von Russland besetzten oder annektierten Gebieten oder in den Regionen leben, in denen gekämpft wird. Zudem sind Millionen Ukrainer aus der Ukraine ins Ausland geflohen. Daher wird man solche Umfragen nicht repräsentativ für die Ukraine nennen können, sondern bestenfalls für die Menschen im Großteil des von Kiew kontrollierten Gebiets. Unklar ist, ob auch Binnenflüchtige befragt wurden.
Das Institut Razumkov hat für eine Umfrage über 2000 Erwachsene vom 24. April bis 4. Mai 2025 befragt. Die Auswahl soll die demografische Struktur der erwachsenen Bevölkerung der Gebiete, in denen die Befragung durchgeführt wurde, zum Beginn des Jahres 2022 abbilden. Die Menschen wurden persönlich befragt, was bedeuten kann, dass nicht alle wirklich sagten, was sie denken. Aber es gibt auf jeden Fall gewisse Trends bei den Umfrageergebnissen, die ganz interessant sind.
Für fast die Hälfte entwickeln sich die Ereignisse in der Ukraine nicht in die richtige Richtung, das sagt nur knapp ein Drittel. Die Menschen ordnen ihre Befindlichkeit eher in Richtung Panik, Angst und Unsicherheit ein. Explizit wurde zwar nicht nach dem Vertrauen in Selenskij gefragt, sondern in den Präsidenten der Ukraine. Die meisten werden für Selenskij geantwortet haben, es könnte aber auch das Amt als solches gemeint gewesen sein. 59.8% trauen dem Präsidenten, 10 Prozent weniger als bei einer Umfrage im März 2025.
Dagegen trauen der Rada, also dem Parlament oder dem Kern der repräsentativen Demokratie, nicht einmal ein Fünftel, auch der von Selenskij eingesetzten Regierung wird kaum mehr Vertrauen entgegengebracht, Staatsangestellte und politische Parteien kommen am schlechtesten weg. Auch der ukrainischen Regierung als Ganzes trauen nur 35%. Die Ergebnisse haben wahrscheinlich mit der hohen Korruption im Parlament und Staatsapparat sowie einem Misstrauen in die Demokratie zu tun. Auch dem Justizsystem und der Staatsanwaltschaft traut man nicht über den Weg.
Das Misstrauen in demokratische Institutionen zeigt sich darin, dass fast 70% einen vom Parlament und Wahlen unabhängigen starken Mann gut finden, davon fast 30% sehr gut. Wie das damit zusammenpasst, dass gleichzeitig 88% ein demokratisches System gut finden, ist kaum plausibel zu machen. Möglicherweise verkörpert der Präsident in einer Präsidialdemokratie wie in der Ukraine – oder in den USA – den starken Mann.
Bürgermeistern und Gemeinderäten, die sind den Menschen näher, genießen höheres Vertrauen. Für autoritäre Orientierung der Ukraine spricht auch, dass das Militär das höchste Vertrauen genießt, was natürlich auch mit dem Krieg zusammenhängt, das Verteidigungsministerium wird schon sehr viel mehr Mistrauen entgegengebracht.
Die Ukraine hält gerade einmal ein Fünftel für eine Demokratie, für die Hälfte bewegt sie sich in Richtung Demokratie, für ein Fünftel ist sie kein demokratischer Staat.
Angeblich wird in der Ukraine Europa verteidigt und soll sie in die EU aufgenommen werden. Aber als Europäer sehen sich nur fast 40%, fast 52% lehnen dies ab.
Am Realitätssinn der Ukrainer lässt sich zweifeln, wenn 76% sagen, sie glauben an einen Sieg der Ukraine über Russland. 60 Prozent halten ihn für möglich, was auch wieder auf eine kognitive Dissonanz hinweist. Über 70% stimmen jeweils den Aussagen zu: Die Ukraine kann Russland besiegen, wenn westliche Partner genügend Waffen liefern, die Ukraine kann Russland besiegen, wenn der Westen mit Humanressourcen hilft, die Ukraine wird in der Lage sein, Russland zu besiegen, wenn sie einen starken eigenen Verteidigungsindustriekomplex aufbaut und die Mobilisierung in Gang setzt. Direkt gefragt, ob sie einen Sieg über Russland für möglich halten, stimmen 60% zu, ein Fünftel sieht das nicht so. Schwierig zu beurteilen, ob die Menschen wirklich weiter an einen Sieg glauben oder meinen, sich lieber so äußern zu sollen, um nicht als prorussisch zu erscheinen und Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Sind sie so indoktriniert oder ist es die Stimmung, die in einem Land im Krieg entsteht, an einen Sieg bis fast in den Untergang zu glauben, was ja auch in der deutschen Geschichte der Fall war.
Die auch von ihm geschürte Siegesgewissheit wird für Selenskij erwartungsgemäß zu einem Problem werden, wenn er Kompromisse bei Friedensverhandlungen eingehen sollte bzw. dies müsste. 40% sehen als Bedingung für ein Friedensabkommen mindestens „die Befreiung der Ukraine von russischen Truppen innerhalb der Grenzen von 1991“ und 30% „die Befreiung der Ukraine von russischen Truppen entlang der Kontaktlinie bis Anfang 2022“. Beides ist höchst unrealistisch nach dem militärischen Stand der Dinge, die realistische Aussage
„Ich gehe davon aus, dass die Grenzen entlang der Frontlinie zum Zeitpunkt der Einigung festgelegt werden“ teilen nur 10,8%.