Verfassungsblog
19 November 2015
Völkerrecht und Sezessionen – Legitimität nur für Einigungswillige?
Katalonien, Schottland, Krim, Québec –
Sezessionismus ist in diesen Tagen wieder einmal ein sehr aktuelles Phänomen, und das nicht nur in Europa. Um so mehr wächst das Bedürfnis danach, sezessionistische Bestrebungen völkerrechtlich und damit nach internationalen Standards zu bewerten. Doch bei der Frage, ob bzw. wann Sezessionen legitim sind, betreibt das Völkerrecht eine Art Versteckspiel mit Verfassungsrecht und Politik. Weder
statuiert es ein ausdrückliches Recht auf Sezession noch
verbietet es dieselbe, sondern überlässt es grundsätzlich dem jeweiligen nationalen Verfassungsrecht, ihre Rechtmäßigkeit zu beurteilen.
Lässt uns also das Völkerrecht mit dem Sezessionismus völlig alleine? Eine Antwort auf diese Frage gab diese Woche
Andreas Paulus, Richter im
Ersten Senat des
Bundesverfassungsgerichts und
Völkerrechtsprofessor in Göttingen, in einem Vortrag vor dem
Wissenschaftlichen Dienst des
Bundestages.
Einsamer Anknüpfungspunkt für eine völkerrechtliche Diskussion über das Sezessionsrecht ist das
Selbstbestimmungsrecht der Völker in
Art. 1 Nr. 2 der
UN-Charta. Selbstbestimmung ist aber nicht das gleiche wie
Sezession. Vielmehr steht das
Sezessionsrecht im Spannungsfeld zwischen dem
Selbstbestimmungsrecht der Völker und der
Souveränität des Staates. Es kann nur unter
bestimmten Voraussetzungen aus dem Selbstbestimmungsrecht
abgeleitet werden.
Das Völkerrecht, so Paulus, schützt die staatliche Souveränität und territoriale Integrität. Im
Zweifelsfall gehe die
Stabilität der Staaten und der
universellen Friedensordnung dem Recht auf
Sezession vor. Aber das gelte
nicht immer:
Wenn die
Stabilität eines Staates nur eine
scheinbare ist, weil eine
Bevölkerungsgruppe nach
Selbstbestimmung strebt, kann eine
Sezession zur
Lösung des
Problems beitragen. Deshalb bilde sich, wenn auch nur allmählich, eine
stärkere Verbindung der Begriffe
Sezession und
Selbstbestimmung heraus.
Wann kann sich aus dem Selbstbestimmungsrecht ein völkerrechtliches Sezessionsrecht ergeben?
Zunächst sind dabei
drei Grundvoraussetzungen für alle Volksgruppen, die eine
legitime Sezession anstreben, zu beachten. Die
Sezessionsgruppen müssen
erstens staatsfähig sein, also durch ein gewisses
Solidaritätsgefühl zusammengehalten werden und eine
Effektivität der Staatsgewalt garantieren.
Zweitens dürfen
keine Ministaaten entstehen, die nicht
von allein lebensfähig seien, wie beispielsweise
Abchasien oder
Südossetien.
...
Drittens dürften die
Sezessionsstaaten nicht selbst gegen
grundlegende Normen des Völkerrechts – das ius cogens – verstoßen. Auch für sie gilt somit u.a. das
Gewaltverbot, das
Verbot von Völkermord,
Sklaverei und
Folter und das
Gebot, die
Menschenrechte zu achten.
Klassischerweise leitet die
Völkerrechtswissenschaft aus dem
Selbstbestimmungsrecht des Art. 1 Nr. 2 UN-Charta das
Recht auf Sezession zur
Entkolonialisierung ab.
Sezessionsbewegungen außerhalb des kolonialen Zusammenhangs wurden
kaum als Ausübung des Selbstbestimmungsrechts behandelt. Dies sieht Paulus
skeptisch.
Eine
geografische Trennung als Voraussetzung für ein
Sezessionsrecht sei schwer zu vertreten. Zudem habe das
Bundesverfassungsgericht schon in seiner Entscheidung zum Grundlagenvertrag von 1973 aus dem
Selbstbestimmungsrecht der Völker das
Recht auf Wiedervereinigung abgeleitet und sei damit über den Entkolonialisierungsansatz hinausgegangen.
Paulus wies in seinem Vortrag darüber hinaus auf eine
moderne Tendenz hin, die beim Zerfall Jugoslawiens entstand: die „
remedial secession“ in Fällen der
krassen Diskriminierung oder
Unterdrückung eines
Bevölkerungsteils – also eine
„Abhilfe-Sezession“ bzw. die
„Sezession als Notwehrrecht“ für die
unterdrückte Gruppe.
Grundlage für diese Ansicht ist
Prinzip V Abs. 7 der Friendly-Relations-Declaration der UN-Generalversammlung:
Die vorstehenden Absätze sind nicht so auszulegen, als ermächtigten oder ermunterten sie zu Maßnahmen, welche die territoriale Unversehrtheit oder die politische Einheit souveräner und unabhängiger Staaten, die sich gemäß dem oben beschriebenen Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker verhalten und die daher eine Regierung besitzen, welche die gesamte Bevölkerung des Gebietes ohne Unterschiede der Rasse, des Glaubens oder der Hautfarbe vertritt, ganz oder teilweise auflösen oder beeinträchtigen würden.
Im
Umkehrschluss zu diesem Prinzip schlussfolgern die Vertreter der
„remedial secession“, dass eine Volksgruppe
ein Recht auf
Abspaltung hat, wenn die betreffende Regierung ihre Bevölkerung
nicht mehr repräsentiert. Typischerweise kommt es in solchen Situationen zu
schweren Diskriminierungen und
Menschenrechtsverletzungen wie dem
Ausschluss von Wahlen,
politisch motivierten Vereinigungs- und
Versammlungsverboten, Hausarresten und
Inhaftierungen.
Bei Umkehrschlüssen ist jedoch Vorsicht geboten. Sie sind nicht immer ein
zutreffendes Auslegungsmittel. Auch Paulus betonte, dass die
„remedial secession“ prekär bliebe und dass sie die
absolute Ausnahme darstellen solle.
Zuvor müssten alle anderen Mittel zur Beilegung des Konflikts zwischen Mutterstaat und Sezessionsgruppe ausgeschöpft sein. Gegner der
„remedial secession“ wenden ein, dass die Formulierung „ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens oder der Hautfarbe“ klar auf den kolonialen Kontext abstelle.
Außerdem gibt es tatsächlich keinen von der Staatengemeinschaft allgemein anerkannten Fall einer erfolgreichen
„remedial secession“. Das aktuellste Beispiel ist die
Ukraine: Obwohl der ukrainische Staat massive Gewalt gegen die separatistischen Bewegungen im Osten des Landes ausübt, bejaht die Staatengemeinschaft
nicht automatisch ein
Sezessionsrecht des Ostens. Die Grenzen der zulässigen Zwangsausübung eines Staates gegenüber seinen Bevölkerungsgruppen sind unscharf und der Zeitpunkt, wann eine
„Notwehrsezession“ zulässig wird, daher
nicht eindeutig zu bestimmen.
Selbst die
Abspaltung des
Kosovo 2008 wird nicht von
allen Staaten anerkannt. Einerseits geschahen dort
Menschenrechtsverletzungen, was für eine „
remedial secession“ spräche. Andererseits war nicht sichergestellt, dass die Institutionen des
Kosovo zum Zeitpunkt der
Unabhängigkeitserklärung tatsächlich bereits
effektive und
unabhängige Gewalt über ihr
Territorium ausübten. Somit bleibt die Frage ungeklärt, wie mit Situationen umzugehen ist, in denen
nicht alle Voraussetzungen einer
„remedial secession“ gleichzeitig vorliegen.
...
„Das Völkerrecht kann nur Hilfestellung für Einigungswillige geben – die Politik ersetzen kann es nicht“,
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