NZZ / 09.09.2023 / von Robert Candia (AP)
Vor fünfzig Jahren endete in Chile der Traum von einem demokratischen Weg zum Sozialismus
Der gewählte Präsident und bekennende Marxist
Salvador Allende wurde am 11. September 1973 vom Militär unter General Augusto Pinochet gestürzt. Welche Rolle spielten die USA? Der Militärputsch in Chile wird vielfach mit der amerikanischen Machtpolitik im Kalten Krieg erklärt. Doch die Ursachen sind vielschichtiger und waren im Wesentlichen hausgemacht. Die Rolle der USA beim Staatsstreich war bedeutsam, aber nicht entscheidend.
Eine schicksalshafte Wahl
Im September 1970 fanden in Chile Präsidentschaftswahlen statt, welche die politische und wirtschaftliche Entwicklung in dem Andenland für Jahrzehnte prägen sollten. Dem populären bisherigen christlichdemokratischen Präsidenten Eduardo Frei Montalva war laut Verfassung eine zweite Amtszeit verwehrt. Er war für Washington eine wichtige politische Stütze gegen die erstarkenden Sozialisten und Kommunisten gewesen, welche in der Unidad Popular (Volksfront) vereinigt waren. Salvador Allende versprach, das Land auf demokratischem Weg zum Sozialismus zu führen.
Bei der Volkswahl am 5. September erreichte keiner der Kandidaten das notwendige absolute Mehr. Salvador Allende machte als Kandidat der Unidad Popular mit 36,3 Prozent der Stimmen das beste Resultat. Hinter ihm folgten der Rechtspolitiker Jorge Alessandri (34,9 Prozent) und der linke Christlichdemokrat Radimiro Tomic (27,8 Prozent).
Die chilenische Verfassung sah für einen solchen Fall keine Stichwahl durch das Volk vor, sondern überliess die Entscheidung dem Kongress. Damit wurde eine Wahl Allendes plötzlich wahrscheinlich, denn die reformorientierten Christlichdemokraten lehnten eine Unterstützung des Kandidaten der Rechten ab.
In Washington war Präsident
Nixon aufgebracht. Seit Jahren hatte er die Demokraten in den USA dafür verantwortlich gemacht, dass sich in Kuba ein kommunistisches Regime festsetzen konnte. Jetzt drohte während seiner Präsidentschaft dasselbe in Chile zu geschehen. Auch sein Sicherheitsberater
Henry Kissinger stufte die Lage als dramatisch ein. Er sah den politischen Zusammenhalt in der westlichen Hemisphäre gefährdet. Die USA würden mit einer Wahl von Allende einen schweren Rückschlag erleiden, während die Sowjetunion im Kalten Krieg entsprechend Auftrieb bekäme.
Geheimoperation der CIA schlägt fehl
In Washington wurde in der Folge eine Geheimoperation beschlossen, um eine Präsidentschaft von Allende zu verhindern. Der Plan sah vor, die
Machtübernahme des
Militärs zu
provozieren und danach neue Wahlen anzusetzen, bei denen Eduardo Frei wieder kandidieren würde. Das weitere Vorgehen ist gut dokumentiert. Das National Security Archive in Washington hat das Geschehen mit zahlreichen mittlerweile zugänglichen Dokumenten nachgezeichnet.
Das Haupthindernis für die Geheimoperation war niemand Geringerer als der Chef der chilenischen Armee, General René Schneider, der vor den Wahlen klargemacht hatte, dass sich die Streitkräfte nicht in die Politik einmischen würden. Mithilfe ausgewählter Offiziere sollte Schneider entführt und das Verbrechen der Linken angelastet werden. Im darauf zu erwartenden Aufruhr würde das Militär die Macht übernehmen. Doch der Plan schlug fehl. Beim Entführungsversuch wehrte sich Schneider mit seiner Dienstpistole und wurde erschossen.
Die aufgeflogene Operation der CIA hatte nun den gegenteiligen Effekt. Die Sympathien flogen erst recht Allende zu. Im Kongress wurde er mit Unterstützung der Christlichdemokraten gewählt. Sie hatten von ihm zuvor schriftliche Garantien erhalten, dass er die Verfassung und das Gewaltmonopol von Polizei und Armee achten werde.
Zwei Wege zum Sozialismus
Allende hatte versprochen, dass er den Sozialismus in Chile auf
demokratischem Weg einführen werde. Man mag ihm zugutehalten, dass dies auch tatsächlich sein ehrlicher Wille war. Doch zwei Faktoren standen dem entgegen.
Erstens erreichte er bei keiner nationalen Wahl auch nur annähernd die Unterstützung einer klaren Mehrheit der Chilenen. Seine Koalition kontrollierte nur ein Drittel der Sitze im Senat und zwei Fünftel der Sitze im Abgeordnetenhaus.
Zweitens teilten einflussreiche Kreise aus Allendes Koalition seine Strategie des demokratischen Wandels zum Sozialismus nicht. Dieser war ihnen zu zögerlich. Dieser grundsätzliche Widerspruch innerhalb der Unidad Popular wird auch in der durchaus wohlwollenden Allende-Biografie des Historikers Victor Figueroa Clark von der London School of Economics bestätigt.
...
Brutale Repression nach dem Militärputsch
Am frühen Morgen des 11. September 1973 schlug das chilenische Militär zu. Die Marine übernahm die Kontrolle in der Stadt Valparaíso, dem Sitz des Kongresses. Die Landstreitkräfte besetzten Schlüsselstellen in der Hauptstadt Santiago. Salvador Allende verschanzte sich im Präsidentenpalast und schlug das Angebot, ins Exil zu gehen, aus. Nachdem die Luftwaffe seinen Amtssitz bombardiert hatte, nahm er sich das Leben.
Eine Junta unter dem Chef der Streitkräfte,
General Augusto Pinochet, übernahm die Regierungsgeschäfte und begann sofort eine
brutale Jagd auf linke Politiker, Gewerkschafter und Studenten. Allein im Nationalstadion von Santiago wurden rund
7000 Menschen zusammengetrieben und festgehalten.
Laut der Rettig- und der Valech-Kommission, welche die Verbrechen der Diktatur nach der Rückkehr zur Demokratie 1990 aufarbeiteten, wurden mehr als 2100 Personen vom Pinochet-Regime ermordet und über 27 000 gefoltert. Fast 1200 Menschen bleiben bis heute verschwunden. Rund 200 000 von gut 10 Millionen Einwohnern flüchteten ins Ausland.
Pinochet liess eine neue Verfassung schreiben und installierte ein ultraliberales Wirtschaftssystem, das die Bevölkerung bis heute spaltet. Zurzeit wird an einem neuen Grundgesetz gearbeitet, über das die Wähler Ende Jahr abstimmen sollen.
Welche Rolle spielten die USA?
Die
CIA hatte auch
nach ihrer gescheiterten Operation vom Herbst 1970 mit
geheimen Operationen und der Unterstützung der Opposition die Regierung von Allende zu
destabilisieren versucht. Ihre Rolle wurde später vom Church Committee, einem Sonderkomitee des US-Senats, untersucht.
Der
Geheimdienst und
amerikanische multinationale Firmen setzten
Millionenbeträge ein, um die Opposition und Propaganda
gegen Allende zu finanzieren – auch während des landesweiten Streiks vom Herbst 1972.
...
[Links nur für registrierte Nutzer]