bpb (PDF Dossier)
Gisela Dachs - Israel kurzgefasst
Überarbeitete Auflage: Oktober 2016, ISBN 978-3-8389-7090-5
Auszug:
— Parteienlandschaft – Spiegelbild einer komplexen Gesellschaft
(Benyamin Neuberger, Professor für Politikwissenschaft an der Open University of Israel)
In der Knesset hat es seit der Staatsgründung nie
weniger als
zehn parlamentarische Fraktionen gegeben. Eine Ursache für die Vielzahl der Parteien im Parlament war die
niedrige Sperrklausel von ein bis zwei Prozent (aber
3,25 Prozent seit
2015). Wichtiger sind jedoch die kreuz und quer verlaufenden sozialen Spaltungen in der Gesellschaft, die durch die Parteien vertreten werden.
Zur besseren Übersicht kann die
komplexe Parteienlandschaft in
vier Gruppierungen geordnet werden – das „
Tauben“-, „Falken“-, „orthodoxe“ und
„arabische“ Lager. Außerdem gibt es die
Parteien der Mitte, die
keiner dieser Gruppen angehören. In jedem der Lager finden sich mehrere parlamentarische Fraktionen, die zuweilen aus lockeren Allianzen zwischen zwei oder drei Parteien bestehen.
„Tauben“ und
„Falken“
Die wichtigste Trennlinie zwischen den politischen Blöcken und Parteien seit dem Sechstagekrieg (1967) ist die zwischen
„Tauben“ und
„Falken“. Tauben werden diejenigen genannt, die das Prinzip
„Land für Frieden“ unterstützen. Damit ist die
Bereitschaft zu einem
permanenten Frieden mit den Palästinensern (in Bezug auf das
Westjordanland und den
Gazastreifen) und mit den
Syrern (in Bezug auf die
Golanhöhen) gemeint.
Voraussetzung dafür ist die
Rückgabe der Gesamtheit oder eines großen Teils der von Israel im Sechstagekrieg besetzten Gebiete. Die
„Tauben“ befürworten die
Errichtung eines
palästinensischen Staates und die Teilung
Jerusalems zwischen Israel und Palästina.
Die Parteien, die
gegen die Formel „Land für Frieden“ sind, werden
Falken genannt. Ihr Schlagwort „Frieden für Frieden“
verhüllt die Absicht,
alle oder fast alle
besetzten Territorien zu
behalten und auf lange Sicht zu
annektieren. Unter dem Begriff
„gemäßigte Falken“ sind diejenigen zu verstehen, die zur Rückgabe von wenig Land (etwa
40 Prozent des Westjordanlands) für Frieden bereit sind. Dabei wissen sie, dass dieses Angebot für die Palästinenser
unannehmbar ist.
Falken- und Taubenparteien unterscheiden sich ebenfalls in ihrer Haltung gegenüber der arabischen Bevölkerung Israels.
Taubenparteien favorisieren eine
liberal-egalitäre Politik mit dem Ziel der
Integration dieser Menschen. Dagegen verfolgen die
Falkenparteien eine Politik, die die
arabischen Israelis vom Zentrum der israelischen Gesellschaft, von Wirtschaft und Politik
fernzuhalten sucht.
Die Unterscheidung von Falken und Tauben wird in Israel häufig als Gegensatz von
Linken (Tauben) und
Rechten (Falken) verstanden, obwohl die ursprüngliche Differenzierung von
links und
rechts eine
sozioökonomische Definition war. Die
führende Partei des
Taubenlagers ist die im
sozioökonomischen Sinn gemäßigt
linke, sozialdemokratische Arbeitspartei. Sie vertritt
gemäßigte Positionen in der
Außenpolitik, ist in der religiösen Frage
nicht orthodox (aber zu Kompromissen mit den Religiösen bereit) und stützt sich im Wesentlichen auf eine
aschkenasische Wählerschaft. In der Vergangenheit war sie im
Arbeitermilieu verortet, während sie heute den
stärksten Rückhalt im
gebildeten Mittelstand hat.
Im
Falkenlager vertritt der im ökonomischen Sinn gemäßigt
rechte Likud (zu Deutsch: Einigung) Falkenpositionen gegenüber den Palästinensern. Er ist den Orthodoxen und Religiösen gegenüber freundlich gesinnt, stützt sich hauptsächlich auf eine
sephardische Wählerschaft und ist entschieden
zionistisch. Eine weitere Falkenpartei ist
Yisrael Beitenu (zu Deutsch: Israel ist unser Haus) – ursprünglich eine Partei russischer Einwanderer der 1990er-Jahre. Anders als die anderen Parteien des Falkenlagers vertritt
Yisrael Beitenu eine
nationalistisch-weltliche Ideologie.
Orthodoxe und ultraorthodoxe Parteien
Die orthodoxen und ultraorthodoxen Parteien definieren sich hauptsächlich über religiöse Fragen. Die
Nationalreligiösen sind mehrheitlich
radikale Falken, die das besetzte Westjordanland als das jüdische Judäa und Samaria betrachten und eine
aktive Siedlungspolitik unterstützen. Sie sind im Prinzip gegen jede territoriale Konzession. In der Knesset sind sie seit der Wahl im Januar 2013 durch die Fraktion
Habayit Hayehudi (zu Deutsch: Das Jüdische Haus) vertreten, einem Zusammenschluss der gleichnamigen Partei Habayit Hayehudi, die 2008 u. a. von Mitgliedern der im gleichen Jahr aufgelösten Nationalreligiösen Partei ins Leben gerufen wurde, mit dem ultranationalistischen
Ihud Leumi (zu Deutsch: Nationale Einheit) zu einer Liste. Die
Nationalreligiösen wollen einen
jüdischen Staat im
religiösen Sinn. Sie sehen in der Errichtung Israels die Hand Gottes, in der Staatsgründung den Anfang der Erlösung. Die Ultraorthodoxen sind die
extremste religiöse Gruppierung. Sie sehen in Israel
keinen jüdischen Staat und waren auch
gegen seine Gründung durch die zionistische Bewegung. Allein Gott und der Messias und nicht die
zionistischen „Häretiker“ haben ihrer Meinung nach die Aufgabe, den jüdischen Staat wieder zu gründen.
Die meisten Ultraorthodoxen nehmen trotzdem an Wahlen teil und sind durch Parteien in der Knesset vertreten, die sogar Regierungskoalitionen angehören. Sie akzeptieren aus pragmatischen Gründen den Staat, den sie gleichzeitig ideologisch ablehnen. Denn sie benötigen staatliche Gelder, um ihre nicht staatlichen Schulen zu finanzieren, und politischen Einfluss, um die Befreiung ihrer Männer vom Militärdienst zu sichern. Zwei wichtige ultraorthodoxe Fraktionen sind das
Thora-Judentum und
SHAS (hebr. [Abk.]; zu Deutsch: Sephardische Thora-Wächter).
Arabische Parteien
Die national-arabischen und islamisch-konservativen Parteien sind erst in den letzten 35 Jahren entstanden, da das israelische Sicherheitsestablishment vorher national-arabische oder islamische Parteigründungen nicht zugelassen hatte. Die Nationale Demokratische Allianz (NDA) ist eine ultranationalistische, säkulare Partei. Die eher konservativen, religiös-islamischen arabischen Israelis sind im Parlament durch die Islamische Bewegung vertreten. Sie steht in der Außenpolitik für die gleichen Positionen wie die anderen arabischen Parteien, ist aber stärker islamisch geprägt und in sozialen Angelegenheiten (zum Beispiel in der Frage der Frauenrechte) konservativ. Eine weitere Gruppierung ist die überwiegend arabisch-israelische Kommunistische Partei, die relativ moderate arabischnationale und säkulare Positionen vertritt, sich aber als „internationalistisch“ versteht und eine linke jüdische Komponente hat. Alle arabischen Parteien unterstützen einen vollständigen Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten, die Errichtung eines palästinensischen Staates und die Transformation Israels von einem jüdischen Staat zu einem „Staat aller Bürger“. 2015 bildeten alle drei Gruppierungen die Vereinigte (Arabische) Liste.
Parteien der Mitte
Parteien der Mitte hat es in Israel immer gegeben. Bei den Wahlen 2006 wurde zum ersten Mal eine neue Partei der Mitte,
Kadima (zu Deutsch: Vorwärts), stärkste Partei. Sie entstand durch eine Spaltung des Likud zwischen den Befürwortern und den Gegnern der unilateralen Räumung des Gazastreifens 2005. Auch Teile der Fraktion der Arbeitspartei, die unzufrieden mit der neuen Parteiführung des Gewerkschaftsführers Amir Perez waren, schlossen sich Kadima an. So wurde Kadima eine echte Partei der Mitte sowohl in der Außen- und Sicherheitspolitik als auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. In der religiösen Frage verfolgte die eher liberal-weltliche Kadima eine pragmatische Politik der Kompromisse, wie sie seit Staatsgründung auch die
Arbeitspartei vertreten hatte.
Vor den Wahlen 2013 entstand
Yesh Atid (zu Deutsch: Es gibt eine Zukunft), eine
neue Partei der Mitte, die auf Anhieb
zweitstärkste Partei wurde.
Yesh Atid versteht sich als Partei des säkularen Mittelstandes und vertritt eine betont antiklerikale Politik und moderate Positionen in der Außenpolitik.
Kadima spaltete sich in zwei Gruppierungen. –
Kadima und
Hatnua.
Hatnua bildete in 2015 eine Allianz mit der Arbeitspartei unter dem Namen
„Das Zionistische Lager“. Eine weitere 2015 gegründete Partei der Mitte ist
Kulanu (zu Deutsch: Wir alle) deren führende Leute aus dem relativ moderaten Flügel des Likuds stammen. Koalitionsregierungen Das zersplitterte israelische Parteiensystem hat dazu geführt, dass eine Partei niemals die absolute Mehrheit erhielt. Seit Staatsgründung waren alle Regierungen Koalitionsregierungen, häufig waren acht bis zehn Parteien an der Koalition beteiligt. Die Koalition, die nach den
Wahlen 2015 gebildet wurde, besteht aus fünf Fraktionen – Likud, Kulanu, Habayit Hayehudi, Thora Judentum und SHAS.
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