Katapult / 01.08.2017  (Auszug)
Staaten, die es nicht gibt
Wann ist ein Staat ein Staat?
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Souveränität – ein großes Wort
Die 
Staatsgewalt meint wiederum den 
Staatsapparat, also sämtliche für den Staat hoheitlich tätigen 
Organe, Institutionen und 
sonstigen Einrichtungen. Dabei braucht es Souveränität, die wiederum 
zwei Dimensionen aufweist:
Nach 
innen braucht es im Sinne Max Webers das 
Gewaltmonopol. Sofern 
andere bewaffnete Gruppen 
Teile des Staatsgebiets 
kontrollieren oder überhaupt 
keine einigermaßen 
effektive Zentralregierung besteht, spricht man von einem 
»failed state« oder einem 
»fragile state«. 
Solche Staaten 
existieren nur im 
formaljuristischen, aufgrund ihrer 
fehlenden Handlungsfähigkeit jedoch 
nicht im faktischen Sinne. 
Ein typisches Beispiel ist
 Somalia seit dem Ausbruch des dortigen Konflikts in den frühen 1990er Jahren.
(Ergaenzung ABAS: und die Ukraine seit 2014)
…
Viele Fragen und mögliche Folgen bleiben ungeklärt: Wer ist das Volk als Träger des Selbstbestimmungsrechts, was macht es aus? Welche Völker haben Anspruch auf einen eigenen Staat, welche nicht? Auf welcher Grundlage wird hier entschieden? Hat man dadurch Hoffnungen geweckt und Unabhängigkeitsbestrebungen gefördert, die so nicht vorherzusehen waren?Der damalige UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali wies die Idee, dass jedes Volk seinen eigenen Staat haben könne, 1992 entschieden zurück.
Diese und ähnliche Fragen sollten sich insbesondere seit dem Ende der Kolonialzeit und der zahlreichen 
Sezessionskonflikte mit neuer Intensität stellen. Nach dem 
Ende des 
Kalten Krieges wurde die Aufmerksamkeit verstärkt auf das 
Innere von 
Staaten und 
allfällige Zerfallstendenzen gerichtet.
Der damalige UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali wies die Idee, dass jedes Volk seinen eigenen Staat haben könne, in seinem »An Agenda for Peace«-Bericht aus dem Jahr 1992 jedenfalls entschieden zurück.
Daher bedeutet das Selbstbestimmungsrecht heute – von einigen Sonderfällen abgesehen – 
kein Recht auf 
einen Staat. Vielmehr verbrieft es den 
Besonderheiten der Umstände entsprechende 
Minderheiten- und 
Autonomierechte. 
Unterschiedliche Gruppen sollen ihre Kultur und Identität innerhalb eines bestehenden Staats wahren können. Die Komplexität der Errichtung eines eigenen Staats erübrigt sich somit. In vielen Fällen bestehen das allfällige Misstrauen gegenüber der Zentralregierung oder der hohe Stellenwert, den das Ziel eines eigenen Staates bei vielen Völkern einnimmt, freilich weiter fort.
Die Staatenwelt im Wandel
In den letzten Jahrzehnten hat eine Vielzahl neuer Staaten das Licht der Welt erblickt. Zum einen wurden ab den 1960er Jahren zahlreiche ehemalige Kolonien und Protektorate unabhängig. In zahlreichen Fällen besteht hier allerdings bis heute 
kein funktionierendes Staatswesen. Oft fehlt es an einem nationalen Zugehörigkeitsgefühl, das die Zugehörigkeit zu ethnischen, religiösen oder kulturellen Untergruppen überlagert. Zum anderen entstanden nach dem Untergang der Sowjetunion und dem Zerfall Jugoslawiens 
neue Staaten beziehungsweise erlangten die annektierten baltischen Staaten 
Estland, Litauen und 
Lettland ihre Unabhängigkeit wieder.
Es bleibt die traurige Erkenntnis, dass Staaten geschichtlich vielfach ein Kind des Krieges sind.
Heute gibt es eine Reihe von Gebieten und Ländern mit 
ungeklärtem Status, darunter insbesondere die Türkische Republik 
Nordzypern, Abchasien, Südossetien, Somaliland, Palästina oder 
Kosovo. Wie in allen Fällen der Entstehung und des Untergangs von Staaten sind hier die jeweiligen historischen und politischen Umstände entscheidend. Es braucht einen entsprechenden politischen Willen innerhalb der Staatengemeinschaft. 
Ohne mächtige Fürsprecher werden derartige Gebilde ignoriert. Man denke hier an das durch den tschechischen Politiker Vit Jedlicka ausgerufene »Liberland«. Umgekehrt können die Interessen von Unabhängigkeitsbestrebungen betroffener Staaten Abspaltungen verhindern.
Hierbei bleibt die traurige Erkenntnis, dass Staaten geschichtlich vielfach ein Kind des Krieges sind. 
Charles Tillys berühmtes Diktum »war made the state, and the state made war« gilt nicht nur für die von ihm beschriebene eminente Bedeutung stehender Heere bei der Herausbildung moderner Nationalstaaten, sondern überhaupt für die Entstehung moderner Staaten als solcher.
Die gegenwärtige juristische Landkarte könnte sich in den nächsten Jahrzehnten maßgeblich verändern.
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