ZEIT ONLINE / 3. Maerz 2014 / von Ludwig Green
Russland und Ukraine
Eine geteilte, leidvolle Geschichte
Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine und der Streit um die Krim reichen jahrhundertelang zurück. Für beide Seiten geht es um die nationale Identität.
Eine geteilte, leidvolle Geschichte
Das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine ist seit Jahrhunderten kompliziert. Beide Staaten eint ihre gemeinsame Geschichte, lange Zeit waren beide Völker eins. Wer die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Ländern verstehen will, muss ihre Geschichte mit berücksichtigen. Denn das Bewusstsein für das Werden und die Historie der eigenen Nation prägt häufig das Handeln der Regierungen und ihre jeweilige Unterstützung in der Bevölkerung.
Der Ursprung des heutigen Russlands, der Ukraine sowie Weißrusslands liegt im Kiewer Rus. In dem Gebiet siedelte im frühen Mittelalter ein gleichnamiges Wikingervolk, das im 9. Jahrhundert den ersten ostslawischen Staat gründete. Im Osten wurde daraus später das russische Zarenreich. Der Westteil geriet im 16. Jahrhundert unter polnische Herrschaft. Infolge der polnischen Teilungen fielen große Teile der Ukraine an Russland, nur der äußerste Westen, Galizien, ging an das Habsburgerreich Österreich-Ungarn. Nach mehreren russisch-türkischen Kriegen eroberte das Zarenreich im 18. Jahrhundert weite Teile der heutigen Südukraine einschließlich der Krim von den unter osmanischer Hoheit herrschenden Krimtataren. Das Gebiet wurde unter dem Fürsten Grigori Potjomkin mit Siedlern aus Zentralrussland besiedelt. Die Krim wurde 1783 von Katharina der Großen "für alle Zeiten" annektiert.
Kleinrussland oder eigener Staat
Im
Zarenreich wurde die Ukraine als
Kleinrussland bezeichnet, mit Bezug auf das historische Kernland um
Kiew. In der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts entwickelte sich jedoch vor allem in der
Westukraine, unter polnischen und österreichischem Einfluss, eine ukrainische Identität. Ihre Anhänger strebten einen eigenen, westorientierten Nationalstaat an.
Nach der russischen Oktoberrevolution 1917 und dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns am Ende des Ersten Weltkriegs entstand für wenige Jahre eine ukrainische Republik. Aber schon 1920 wurde sie von der Roten Armee besetzt. 1921 fiel durch den
Frieden von Riga die Westukraine an Polen, Rumänien und die Tschechoslowakei. Der übrige Teil wurde als
ukrainische Sowjetrepublik Teil der
UdSSR.
...
Chruschtschows verhängsnisvolles Geschenk
Nach 1945 blieb die Ukraine Teil der Sowjetunion. 1954
schenkte ihr
* Parteichef Nikita Chruschtschow, der
selbst aus der Ukraine stammte, die
Krim anlässlich des
300-jährigen Jubiläums der
Russisch-Ukrainischen Einheit. Viele Russen, einschließlich Putin,
bedauern dieses Geschenk bis heute.
Im Zuge der Auflösung der Sowjetunion erlangte die Ukraine 1991 schließlich ihre Unabhängigkeit. Sie blieb aber wirtschaftlich und finanziell
stark von Russland abhängig und suchte weiter ihre Identität zwischen einer Westorientierung in Richtung EU und Nato und der historischen Bindungen an das östliche Nachbarland.
Autonomiestreben auf der Krim
Ein besonderer Zankapfel blieb die Krim. Nach der Unabhängigkeit konnte die Regierung in Kiew ihre Herrschaft über die Halbinsel nur mühsam durchsetzen und dort ein eigenes Unabhängigkeitsreferendum unterdrücken. Als Zugeständnis an die russischsprachige Bevölkerungsmehrheit erhielt die Krim weitgehende Autonomie. Nur die Hafenstadt Sewastopol, wo Russland seit Ende des 18. Jahrhunderts eine Marinebasis unterhält und wo die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist, wird direkt von Kiew aus verwaltet. Ein zusätzliches Minderheitenproblem bilden die Krimtataran, die auf der Halbinsel und in der ganzen Südukraine jahrhundertelang gesiedelt und geherrscht hatten. Wegen angeblicher Kollaboration mit den deutschen Besatzern ließ Stalin sie 1944 nach Zentralasien deportieren, etwa die Hälfte der muslimischen Bevölkerungsgruppe kam dabei ums Leben. Erst ab 1989 durften die Tataren auf die Krim zurückkehren.
Die Tataren wehren sich aus dieser historischen Erfahrung gegen eine russische Herrschaft über die Krim. Ein
Teil der russischsprachigen Bevölkerung, die sich immer noch als
Teil Russlands empfindet, stellt sich gegen die neue, westorientierte Führung in Kiew. Die übrigen Ukrainer wiederum sind gegen eine Oberherrschaft Moskaus. Und
alle berufen sich auf
dieselbe Geschichte.
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