Solschenizyn: Mit dem Hinweis »von außen« hat er nicht unrecht: Sie sehen doch, dass überall in der Welt die Sorge darüber wächst, wie die USA ihre neue Monopolrolle als führende Weltmacht auszufüllen versuchen - auch auf Kosten Russlands. Was die »selbstquälerischen Vergangenheitsbetrachtungen« angeht, so werden die Begriffe »sowjetisch« und »russisch« leider bis heute gleichgesetzt. Schon in den siebziger Jahren habe ich dagegen argumentiert. Doch alle, der Westen, die Länder des ehemaligen sozialistischen Lagers, die ehemaligen Sowjetrepubliken, gehen mit diesen Begriffen leichtfertig um.
Die alte Politikergeneration in den früher kommunistisch regierten Ländern empfindet überhaupt keine Reue. Und der politische Nachwuchs nimmt mit seinen Anschuldigungen und Ansprüchen immer die bequemste Zielscheibe ins Visier - das heutige Moskau. So, als ob sich diese Leute heldenhaft ganz allein befreit hätten und nun ein neues Leben führen, während Moskau kommunistisch geblieben sei.
Ich hoffe, dass diese krankhafte Haltung bald der Vergangenheit angehört. Alle Völker, die den Kommunismus leidvoll ertragen mussten, sollten ihn als die wahre Ursache für die bitteren Erfahrungen in ihrer Geschichte erkennen.
SPIEGEL: Die Russen inbegriffen.
Solschenizyn: Wenn wir alle unsere Vergangenheit nüchtern sehen könnten, würde auch in unserem Land die Nostalgie nach sowjetischen Verhältnissen längst zu Ende sein. Und die Länder Osteuropas wie die ehemaligen Sowjetrepubliken würden ihre instinktive Haltung überwinden, den historischen Weg Russlands als Quelle allen Übels zu sehen. Es kann nicht angehen, dass persönliche Greueltaten von konkreten Führern oder politische Regimeverbrechen zur Schuld des russischen Volkes und seines Staates erklärt oder auf die angeblich krankhafte Psyche des russischen Volkes zurückgeführt werden, wie es im Westen oft genug getan wird. Diese Regime konnten sich nämlich nur durch den blutigen Terror in Russland halten. Es ist offensichtlich: Nur eine eigenständig erkannte Schuld kann Unterpfand für eine nationale Genesung sein. Ständige Vorwürfe von außerhalb sind eher kontraproduktiv.