Deutschlandfunk / Archiv / 11.10.2018
Alltagskultur des Balkans
Erbe des Osmanischen Reiches
Nirgendwo sonst in Europa leben Menschen verschiedener Ethnien und Religionen so eng zusammen wie auf dem Balkan. Trotz aller Konflikte und Unterschiede gibt es eine gemeinsame Alltagskultur. Das Osmanische Reich, das infolge des 1. Weltkriegs zerfiel, hat auf dem Balkan ein Erbe hinterlassen, das bis heute nachwirkt.
In kaum einer Ecke Europas leben Menschen so vieler verschiedener Ethnien und Religionen lange Zeit
friedlich zusammen wie auf dem Balkan. Diese
Tradition, aber auch die
Kriege am Ende
20. Jahrhunderts lassen sich mit der langen Herrschaft der Osmanen in Verbindung bringen. Niemand anders hat diese wechselvolle Geschichte des Balkans so nachdrücklich geschildert wie der Nobelpreisträger Ivo Andric 1945 in seinem Romanepos - Die Brücke über die Drina - , erläutert die serbische Kulturwissenschaftlerin Aleksandra Salamurovic von der Universität Jena.
„Die Brücke befindet sich nach wie vor seit ihrer Errichtung Ende des 16. Jahrhunderts bis heute in der Stadt Visegrad in Bosnien und Herzegowina an der Grenze zu Serbien. Die Brücke wurde schon damals errichtet, um die Handelswege zwischen der Hauptstadt Istanbul und dem Westen zu ermöglichen und zu erleichtern. Andric erzählt
400 Jahre Geschichte der Brücke dieser Stadt und dieses Austausches zwischen Muslimen und letztendlich auch Serben, Kroaten, Juden, die in der Stadt gelebt haben, bis zur Ankunft der Österreicher.“
Schauplatz waren die Brücke über die Drina und der Balkan in der
600jährigen Geschichte des Osmanischen Reiches. Sie waren allerdings eher Randplätze im riesigen Osmanischen Reich.
Das Osmanische Reich – viele Ethnien und Religionen
Auf dem
Höhepunkt seiner Machtentfaltung im 17. Jahrhundert erstreckte sich die Herrschaft der Osmanen von
Nordafrika über
Kleinasien und die
arabische Halbinsel bis in den
Irak hinein, und im Südosten Europas hatte man den
gesamten Balkan unterworfen.
Professor Albrecht Fuess, Islamwissenschaftler an der Universität Marburg, hebt hervor, dass viele verschiedene Ethnien und Religionen in diesem Großreich versammelt waren: Türken, Griechen, Armenier und Araber, Muslime, griechische-orthodoxe Christen und Juden. Albrecht Fuess ist an einem neuen universitätsübergreifenden Forschungsprogramm beteiligt, das unter dem Titel Transottomanica die vielfältigen
Austauschprozesse zwischen dem
Osmanischen Reich, Osteuropa und
Persien untersucht.
„Was wir beim Osmanischen Reich sehen, ist ein transethnischer Staat, ein transnationaler Staat mit sehr vielen verschiedenen Kulturen und Religionen, und in dem der Sultan so eine Art von ordnender Hand ist, der dafür zu sorgen hat, dass es allen Ethnien, allen Religionen und allen Gesellschaftsschichten gutgeht.“
Toleranter Islam, keine Zwangsbekehrungen
Das Osmanische Reich praktizierte einen Islam, der wesentlich toleranter war als zur gleichen Zeit das Christentum in Andalusien, wo Juden und Muslime am Ende des 15. Jahrhunderts vertrieben wurden, falls sie sich weigerten zu konvertieren. Im Osmanischen Reich wurde zwar ein Übertritt zum Islam begrüßt, aber es gab keine Zwangskonversionen. Im Gegenteil: Der Sultan hatte die aus Spanien vertriebenen Juden nach Istanbul eingeladen, erklärt Joachim von Puttkamer, Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Jena.
„In der Tat ist das Osmanische Reich anders als mitteleuropäische Länder nicht von der Vorstellung ausgegangen, dass die Untertanen alle dieselbe Religion haben müssten wie die Herrscher. Dass Muslime privilegiert waren, sowohl was die Besteuerung, als auch was den Militärdienst angeht – soweit man das als Privileg bezeichnen möchte – und auch was die Verwaltungslaufbahn angeht und den Zugang zu Machtpositionen, das ist natürlich völlig klar.“
Minderheiten wie zum Beispiel die
Juden genossen den Schutz des Sultans, sie konnten ebenso wie die Christen ihre Religion frei ausüben, sofern sie den
steuerlichen Sonderverpflichtungen nachkamen. Das
multiethnische und
multireligiöse Zusammenleben, das weitgehend
friedlich verlief, ist ein Charakteristikum des Osmanischen Reiches, zumal auf dem Balkan, wo katholische Kroaten, griechisch-orthodoxe Serben, Juden und Muslime in Bosnien und Albanien mit- und nebeneinander leben. Die Osmanen besaßen die
politisch-militärische Oberhoheit, aber ansonsten überließen sie die
Lokalverwaltung weitgehend den einzelnen Religionsgemeinschaften.
Religionsgemeinschaften regeln sich selbst
„Das ist das viel beschworene autonome Millet System, einer Minderheitenautonomie für Katholiken, für Orthodoxe, die mit Abstand die größte christliche Gruppierung gewesen sind, aber auch für Juden. Für viele zivile Dinge – das fängt bei Heiraten und Geburtsregistern an, aber auch Streitschlichtung und Lokalverwaltung – spielt das alles eine starke Rolle, dass das den kirchlichen Institutionen und Würdenträgern überlassen blieb.“ (Joachim von Puttkamer)
Der Sultan im fernen Istanbul überließ auch die
Steuererhebung den
Mächtigen vor Ort, die dabei relativ eigenmächtig verfahren konnten. Hier wird die Kehrseite des Systems sichtbar, hier liegen die historischen Wurzeln von Klientelismus und Korruption in Südosteuropa.
„Wir wissen alle, dass Klientelismus und Korruption auch in anderen Teilen der Welt vorkommen. Nichtsdestotrotz ist gerade in südosteuropäischen Ländern diese Erscheinung nicht selten.“
Die Wurzeln von Korruption und Vetternwirtschaft
Wolfgang Dahmen, emeritierter Professor für rumänische Literatur- und Sprachwissenschaft.
„Gerade in Rumänien gibt es im Augenblick eine Diskussion darüber, dass die Staatsanwältin, die die Korruptionsbehörde leitet, von der Regierung ihres Amtes enthoben worden ist gegen den Willen des rumänischen Staatspräsidenten.“
Wolfgang Dahmen war der Sprecher eines interdisziplinären Graduiertenkollegs an der Universität Jena, das in den vergangenen 10 Jahren die historisch-kulturellen Strukturen in Südosteuropa erforscht hat. Eine wichtige Frage lautete dabei, welches Erbe das Osmanische Reich auf dem Balkan hinterlassen hat. Gehören auch Probleme wie Vetternwirtschaft und Korruption zu seinen Nachwirkungen? – Klientelismus werde durch bestimmte historische Voraussetzungen begünstigt, die mit dem Staatsverständnis im Osmanischen Reich zusammenhingen, erläutert Joachim von Puttkamer.
„Vielleicht sollte man sich das grundsätzlich so vorstellen, dass das Osmanische Reich an Entwicklungen in Mitteleuropa – da denke ich an die Habsburger Monarchie und an Preußen – vor allem der Staatsbildung, nicht in dem Maße teilhat, wo die Monarchen einen unabhängigen, eigenen bürokratischen Apparat aufbauen, der auf lokaler Ebene die Interessen des Fürsten, was Steuereinnahmen angeht, auch gegen die lokalen Eliten durchsetzen kann.“
Der ferne Sultan und die Mächtigen vor Ort
Während im West- und Mitteleuropa der Neuzeit die Fürsten immer stärker durchregieren, mittels eines gutorganisierten Beamtenapparates ihren Staat bis in den letzten Winkel hinein formen und kontrollieren, muss sich der Sultan in seinem Riesenreich damit begnügen, dass die fernen Provinzen seine Oberherrschaft anerkennen und Abgaben errichten.
„Unser Steuersystem ist hochkomplex heutzutage in Mitteleuropa, weil es für jeden Einzelnen zu bestimmen versucht, was eigentlich verkraftbar ist. Und das ist ein Prozess, der sich vom 16. bis ins 20. Jahrhundert aufbaut. Die einfachste Form – und so hat es das Osmanische Reich noch bis ins 19. Jahrhundert hinein auch gemacht – ist eine Quote festzulegen, die ein bestimmtes Gebiet aufzubringen hat. Und wie der Steuereintreiber das macht, das musste er dann selber sehen.“ (Joachim von Puttkamer)
So konnten die Mächtigen vor Ort sehr autonom agieren: manchmal zum Nutzen der lokalen Gemeinschaft, noch öfter aber, um sich selber die Taschen vollzumachen, Familienangehörigen und Freunden einträgliche Posten zuzuschanzen. Das findet man, so Wolfgang Dahmen, auch heute noch:
„Es gibt solche Beispiele, wo dann eben die Verwandten zum Vorsitzenden der Erdölraffinerie gemacht werden und Ähnliches. Man schiebt sich dann schon die Pöstchen zu.“
„Und nicht nur Pöstchen, sondern auch Staatsaufträge verschaffen, also dass man versucht, sich den Staat zu eigen zu machen."(Joachim von Puttkamer)
Nationalismus zerstört die Vielvölkerstaaten
Im
19. und beginnenden
20. Jahrhundert, so Joachim von Puttkamer, definieren und organisieren sich in ganz Europa immer mehr Staaten über den Begriff der
Nation. Der
Nationalismus ist jene
Zersetzungskraft, die die
transethnischen Staatsgebilde, die
Vielvölkerstaaten am Ende des 1. Weltkrieges implodieren lässt:
Das Habsburger Reich 1918 und 1922 das Osmanische Reich.
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