Teil C
Dieser Versuch, die Autorität der UN einseitig zu negieren, wird von der internationalen Gemeinschaft allerdings nicht getragen. Keine UN-Resolution kann ohne Abstimmung durch das jeweilige Organ annulliert werden, das die Resolution einst beschlossen hat. Weder der UN-Generalsekretär, noch die andere Mitglieder des Sicherheitsrats stimmen mit der Einschätzung der USA überein, dass die Resolutionen irrelevant seien. Darüber hinaus können bilaterale Vereinbarungen zwischen zwei Parteien die Autorität des UN-Sicherheitsrats keinesfalls ersetzen. Das gilt insbesondere, wenn eine der beiden Parteien (in diesem Fall die Palästinenser) deutlich gemacht hat, dass solche Resolutionen durchaus noch immer relevant sind.
Unter anderem, weil sie bisherige Resolutionen des UN-Sicherheitsrats nicht durchsetzen, werden die USA als einseitig ausgerichtet wahrgenommen. Seit den frühen siebziger Jahren haben die Vereinigten Staaten ihr Vetorecht im Sicherheitsrat vierzig Mal genutzt, um Resolutionen, die Israels Politik in den besetzen Gebieten kritisierten, zu blockieren. Alle anderen Staaten zusammen haben bei sämtlichen anderen Angelegenheiten während derselben Periode ihr Vetorecht seltener als die USA eingesetzt. In jüngster Vergangenheit legten die USA zum Beispiel ein Veto gegen eine Resolution aus dem Jahr 2001 ein, die dazu aufrief, unbewaffnete Menschenrechtsbeobachter in den besetzten Gebieten zu stationieren, und im vergangenen Dezember blockierten sie ebenfalls eine Resolution, die kritisierte, dass Israel drei Mitarbeiter der Vereinten Nationen getötet hatte. Es gab zudem unzählige Gelegenheiten, bei denen schon die Androhung eines US-Vetos zur Folge hatte, dass die Formulierungen einer Resolution gemildert oder eine eingereichte Resolution bereits vor der Abstimmung zurückgezogen wurde. Im März 2001 brachten die USA eine Reihe von Resolutionen zu Fall, die die Europäischen Staaten vorgeschlagen hatten: Die USA drohten an, gegen jede Resolution ein Veto einzulegen, die bezüglich der Einkesselung palästinensischer Städte durch die israelische Besatzungsarmee den Begriff Belagerung verwendete oder irgendetwas im Zusammenhang mit Israels illegalen Siedlungen, der Genfer Konvention, dem internationalen Recht oder dem Prinzip Land für Frieden erwähnte.
Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass das Insistieren der Vereinigten Staaten, im Irak einmarschieren zu müssen, um die Integrität der Vereinten Nationen und ihrer Resolutionen zu bewahren, als überaus heuchlerisch empfunden wird.
Befürworter der israelischen und amerikanischen Position weisen darauf hin, dass die Resolutionen, die sich mit Israel befassen, unter das Kapitel VI der UN-Charta fallen, mit der Überschrift "Die friedliche Beilegung von Streitigkeiten". Die meisten der Resolutionen, die den Irak behandeln, gehörten jedoch zu Kapitel VII ("Maßnahmen bei der Bedrohung oder Bruch des Friedens bei Angriffshandlungen"). Das ist formell gesehen zwar richtig. Diese Argumentationslinie ignoriert aber, dass die Bestimmung darüber, welche Resolutionen welcher Kategorie zugeordnet werden müssen, nicht so sehr damit zu tun hat, wie schwer ein bestimmter Staat das internationale Recht verletzt oder welche Auswirkungen auf die Menschen solche Rechtsverletzung hat. Vielmehr hängt die Zuordnung oft davon ab, in welcher Beziehung der Vertragsbrüchige zu den stärksten Mächten im Sicherheitsrat steht.
So fanden sich beispielsweise Resolutionen, die sich mit Indonesiens Invasion und den Massakern in Osttimor befassen, unter Kapitel VI wieder. Eine Resolution über den Auslieferungsdisput zwischen den USA und Libyen fiel dagegen unter Kapitel VII.
Diese himmelschreiende Politisierung des UN-Sicherheitsrats durch die USA zu Gunsten Israels - und anderer US-Verbündeter wie Marokko und der Türkei - hat die Legitimität der Vereinten Nationen, des internationalen Rechtssystems und die grundlegenden Prinzipien des Multilateralismus ernsthaft untergraben.
Das, zusammen mit der US-Invasion des Irak, stellt die Rechtmäßigkeit der Konzepte des 20. Jahrhunderts - das internationale System, das auf vereinbarten rechtlichen Prinzipien beruht - in Frage und ersetzt sie mit Auffassung von Machtpolitik, die aus dem 19. Jahrhundert stammt. Daraus könnte eine
Welt der Anarchie entstehen, die weder für Israel, noch für die Vereinigten Staaten oder sonst irgend jemanden gut sein kann.
aus: der überblick 04/2003, Seite 90
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