«Das Recht, das politische System selber zu wählen»
Wir haben bereits über Artikel 2 der Charta gesprochen. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf seinen wichtigsten Absatz 1 lenken: «Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder.» In Weiterentwicklung dieses Grundsatzes bestätigte die Generalversammlung der Vereinten Nationen in der von mir erwähnten Erklärung vom 24. Oktober 1970 «das unveräusserliche Recht eines jeden Staates, sein politisches, wirtschaftliches, soziales und kulturelles System ohne Einmischung von irgendeiner Seite selbst zu wählen».
In diesem Zusammenhang hinterfragen wir Aussagen von Generalsekretär Guterres vom 29. März dieses Jahres, wonach «autokratische Herrschaft keine Stabilität garantiert, sondern ein Katalysator für Chaos und Konflikte ist», dass aber «starke demokratische Gesellschaften zur Selbstheilung und Selbstverbesserung fähig sind. Sie können einen Wandel, sogar einen radikalen Wandel, ohne Blutvergiessen und Gewalt herbeiführen».
Man kann nicht umhinkommen, an die aggressiven Abenteuer der «starken Demokratien» in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und in vielen anderen Ländern zu erinnern. Der ehrenwerte Antonio Guterres sagte weiter: «Sie – die Demokratien – sind Zentren einer umfassenden Zusammenarbeit, die auf den Grundsätzen der Gleichheit, der Teilhabe und der Solidarität beruht.»
Es ist bemerkenswert, dass alle diese Reden auf dem «Gipfel für Demokratie» gehalten wurden, die Präsident Biden ausserhalb der UNO einberief und dessen Teilnehmer die US-Regierung nach ihrer Loyalität ausgewählt hatte. Der Loyalität nicht so sehr gegenüber Washington, sondern gegenüber der regierenden Demokratischen Partei in den USA. Der Versuch, solche Foren zu nutzen, um globale Fragen zu erörtern, steht in direktem Widerspruch zu Artikel 1 Absatz 4 der UN-Charta, in dem es heisst, dass «die Rolle der Organisation als Zentrum für die Koordinierung von Massnahmen zur Erreichung gemeinsamer Ziele gewährleistet werden muss».
Entgegen diesem Prinzip haben Frankreich und Deutschland vor einigen Jahren ein «multilaterales Bündnis» ausgerufen, zu dem sie auch nur diejenigen einluden, die gehorchen, was an sich schon das Fortbestehen der kolonialen Mentalität und die Haltung der Initiatoren gegenüber dem Prinzip des «effektiven Multilateralismus» auf unserer aktuellen Agenda bestätigt. Gleichzeitig wurde das «Narrativ» der EU als Ideal für eben diesen «Multilateralismus» verbreitet. Jetzt gibt es Forderungen aus Brüssel, die Zahl der EU-Mitglieder so schnell wie möglich zu erweitern, insbesondere um die Balkanländer.
«Ist die Ukraine eine Demokratie oder eine Autokratie?»
Aber das wichtigste Pathos gilt nicht Serbien oder der Türkei, die sich seit Jahrzehnten in aussichtslosen Beitrittsverhandlungen befinden, sondern der Ukraine. Josep Borrell, der sich als Ideologe der europäischen Integration ausgibt, hat kürzlich nicht gezögert zu sagen, dass das Kiewer Regime so schnell wie möglich in die EU aufgenommen werden sollte. Wäre der Krieg nicht gewesen, hätte es Jahre gedauert, aber so ist es möglich und notwendig, ohne irgendwelche Kriterien. Serbien, die Türkei und andere können warten. Aber Nazis nehmen sie in der EU ausserhalb der Warteliste auf.
Übrigens verkündete der Generalsekretär auf demselben «Gipfel für Demokratie»: «Die Demokratie ergibt sich aus der UN-Charta. Die ersten Worte der Charta – ‹Wir, die Völker› – spiegeln die grundlegende Quelle der Legitimität wider: die Zustimmung derer, die regiert werden.» Es wäre hilfreich, diese These mit der «Bilanz» des Kiewer Regimes in Verbindung zu bringen, das einen Krieg gegen einen grossen Teil seines eigenen Volkes entfesselt hatte, gegen jene Millionen von Menschen, die nicht damit einverstanden waren, von Russophoben und Neonazis regiert zu werden, die unrechtmässig die Macht im Land übernahmen und das vom UN-Sicherheitsrat gebilligte Minsker Abkommen zu Grabe trugen. Damit wurde die territoriale Integrität der Ukraine zerstört. Diejenigen, welche die Menschheit im Widerspruch zur UN-Charta in «Demokratien» und «Autokratien» einteilen, täten gut daran, folgende Frage zu beantworten: In welche Kategorie ordnen Sie das ukrainische Regime ein? – Ich erwarte keine Antwort.
Das Verhältnis der UN-Generalversammlung zum Sicherheitsrat
Wenn wir über die Prinzipien der UN-Charta sprechen, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis des Sicherheitsrates zur Generalversammlung. Das «westliche Kollektiv» geht seit langem aggressiv mit dem Thema «Missbrauch des Vetorechts» hausieren und hat – durch nicht ganz korrekten Druck auf andere UN-Mitglieder – erreicht, dass nach jedem Gebrauch dieses Rechts, den der Westen zunehmend bewusst provoziert, das entsprechende Thema in der Generalversammlung behandelt werden soll.
Das stellt für uns kein Problem dar. Russlands Haltung zu allen auf der Tagesordnung stehenden Themen ist offen, wir haben nichts zu verbergen, und es fällt uns nicht schwer, diesen Standpunkt erneut zu vertreten. Im Übrigen ist das Veto ein absolut legitimes Instrument, das in der Charta vorgesehen ist, um die Annahme von Beschlüssen zu verhindern, die das Risiko einer Spaltung der Organisation mit sich bringen würden.
Aber wenn das Verfahren zur Erörterung von Vetofällen in der Generalversammlung angewendet wird, warum nicht auch über die Resolutionen des Sicherheitsrates nachdenken, die nicht beachtet wurden, die angenommen wurden, auch vor vielen Jahren, aber trotz der Bestimmungen von Artikel 25 der Charta immer noch nicht umgesetzt sind?*
Warum sollte sich die Generalversammlung nicht mit den Gründen für diesen Zustand befassen? Zum Beispiel mit den Resolutionen des Sicherheitsrates zu Palästina und einer ganzen Reihe von Themen Nordafrikas und des Nahen Ostens, zum iranischen Atomabkommen, sowie mit der Resolution 2202, mit der das Minsker Abkommen zur Ukraine gebilligt wurde?
Sanktionen über die Beschlüsse des Sicherheitsrats hinaus
Auch die Frage der Sanktionen bedarf der Aufmerksamkeit. Es ist zur Regel geworden, dass der Sicherheitsrat nach langwierigen Verhandlungen unter strikter Einhaltung der Charta Sanktionen gegen ein bestimmtes Land beschliesst, und dass die USA und ihre Verbündeten dann «zusätzliche» einseitige Beschränkungen gegen denselben Staat verhängen, die nicht vom Sicherheitsrat gebilligt wurden und nicht in seiner Resolution im Rahmen des vereinbarten «Pakets» enthalten sind.*
Ein weiteres eklatantes Beispiel in der gleichen Reihe ist die soeben von Berlin, Paris und London durch ihre nationalen Rechtsnormen verabschiedete Entscheidung, die im Oktober auslaufenden Restriktionen gegen den Iran zu «verlängern«, die gemäss der Resolution 2231 des UN-Sicherheitsrats rechtlich beendet werden müssen. Mit anderen Worten: Die europäischen Länder und Grossbritannien erklären, dass der Beschluss des Sicherheitsrates abgelaufen ist, aber das interessiert sie nicht, denn sie haben ihre eigenen «Regeln».
Eine Resolution des Sicherheitsrats zu den Sanktionen verlangt, dass sich kein UN-Mitglied das Recht nimmt, diese Resolution zu entwerten, indem es seine eigenen unrechtmässigen Beschränkungen gegen dasselbe Land verhängt.
Es ist auch wichtig, dass alle Sanktionsregelungen des Sicherheitsrates zeitlich begrenzt sind, da ihr unbefristeter Charakter den Rat der Flexibilität beraubt, die Politik der «sanktionierten Regierungen» zu beeinflussen.
Das Thema der «humanitären Grenzen von Sanktionen» erfordert ebenfalls Aufmerksamkeit. Es wäre richtig, wenn alle künftigen Sanktionsprojekte, die dem Sicherheitsrat vorgelegt werden, von Bewertungen ihrer Folgen für die Bürger durch die humanitären Organisationen der Vereinten Nationen begleitet würden, anstatt von demagogischen Beschwörungen der westlichen Kollegen, dass «die einfachen Menschen nicht leiden werden».
«Eine polyzentrische Weltordnung als Garantie für Sicherheit»
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fakten zeigen, dass sich die internationalen Beziehungen in einer der tiefsten Krisen befinden, und dass es dem Westen an Wunsch und Willen
fehlt, diese Krise zu überwinden. Ich hoffe, dass es einen Ausweg aus dieser Situation gibt und dass dieser auch gefunden wird. Zunächst einmal muss sich jeder der Verantwortung für das Schicksal unserer Organisation und der Welt bewusst werden – und zwar in einem historischen Kontext und nicht im Hinblick auf konjunkturelle Wahl- und Augenblicksentwicklungen bei den nächsten nationalen Wahlen in diesem oder jenem Mitgliedstaat.*
Lassen Sie mich noch einmal daran erinnern: Vor fast 80 Jahren haben sich die Staats- und Regierungschefs der Welt mit der Unterzeichnung der UN-Charta darauf geeinigt, die souveräne Gleichheit aller Staaten zu respektieren – grosser und kleiner, reicher und armer, Monarchien und Republiken. Mit anderen Worten: Schon damals erkannte die Menschheit die Notwendigkeit einer gleichberechtigten, polyzentrischen Weltordnung als Garantie für die Nachhaltigkeit und Sicherheit ihrer Entwicklung.
Deshalb geht es heute nicht darum, sich einer «regelbasierten Weltordnung» zu unterwerfen, sondern darum, die bei der Unterzeichnung und Ratifizierung der Charta eingegangenen Verpflichtungen in ihrer Gesamtheit und in ihrer Wechselbeziehung zu erfüllen.
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