Hamburger Abendblatt / 09.08.2012
RUSSISCHE SEKTE
Ohne Strom, ohne Sonnenlicht: 20 Kinder mussten jahrelang unter der Erde leben
Mehr als
ein Jahrzehnt hat eine
russische Sekte mit mehr als 20 Kindern
ohne Sonnenlicht, Heizung und Strom in einem unterirdischen Bunkersystem gelebt. „Die Kinder sind nie zur Schule gegangen und waren kaum über der Erde“, teilten die Behörden in der Stadt Kasan der Zeitung „Komsomolskaja Prawda“ zufolge mit. „Sie waren schmutzig, trugen Lumpen und wurden nie von Ärzten untersucht. Die rund 70 Mitglieder lebten in den zellenartigen Räumen, die bis zu
sieben Stockwerke tief
unter die Erde gebaut worden waren.
Die Kinder sind nach Medienangaben zwischen 18 Monaten und 17 Jahren alt. Sie kamen in Kliniken und sollen dann in Waisenhäusern betreut werden, wie der Kinderschutzbeauftragte der Regierung, Pawel Astachow, der Agentur Ria Nowosti sagte. Astachow forderte, die Eltern dürften ihre Kinder erst nach langer Therapie zurückbekommen. Die Behörden in der muslimisch geprägten
Teilrepublik Tatarstan ermitteln gegen den 83 Jahre alten
Sektenchef Faisrachman Satarow, weil er „das Recht in die eigene Hand genommen hat“. Den Eltern drohen Verfahren wegen der Misshandlung Schutzbefohlener. Festnahmen gab es zunächst nicht.
Satarows Anhänger in der Wolga-Stadt Kasan – rund 800 Kilometer östlich von Moskau – drohen der „Komsomolskaja Prawda“ zufolge, den
Weltuntergang heraufzubeschwören, falls ihnen die Behörden nicht ihre Kinder zurückgeben.
Auch gegen den angekündigten Abriss des illegal gebauten Hauses ihres „Propheten“ kündigten sie Widerstand an. Die
„Faisrachmanisten“ hätten sich bereits 2001 von der Außenwelt abgeschottet, schrieb das Blatt. Der Grund war angeblich durchaus weltlich:
Die Gemeinschaft habe hohe Schulden gehabt.
Auf dem von Mauern umgebenen Gelände nahe einer Bahnstrecke steht eine
kleine Moschee. Zudem verfüge die
Sekte über
eigene Brunnen und sogar eine
Dieselstation. Die Frauen hätten ihre Kinder auf dem Gelände geboren. Unterricht gab der selbst ernannte
Prophet Satarow. Seine Anhänger durften – bis auf wenige Ausnahmen – das Gelände
nicht verlassen und
keinen Kontakt zur Außenwelt aufnehmen.
Satarow hatte Medien zufolge bereits 1964 eine erste Vision und erklärte sich Ende der 1980er Jahre zum Propheten. 1996 kaufte er das etwa 700 Quadratmeter große Gelände am Stadtrand von Kasan. Die Behörden waren aufmerksam geworden, als ein
Spezialkommando wegen Ermittlungen in einem Mord an einem muslimischen Geistlichen das Gelände
stürmte. Der Verdacht auf Terrorismus bestätigte sich zunächst nicht.
Der Fall erinnert an ein Drama nahe der russischen Stadt Pensa, wo sich Ende 2007 etwa 30 Mitglieder einer Weltuntergangssekte, darunter auch Kinder, in ein
unterirdisches Tunnelsystem zurückzogen. Erst nach Monaten kamen die letzten Anhänger heraus.
Experten erklären den Boom von Sekten nach dem Zerfall der Sowjetunion vor gut 20 Jahren mit der Orientierungslosigkeit vieler Menschen. Vor allem Sekten hätten dieses ideologische Vakuum gefüllt.
Hintergrund: Abgeschottete Sekten
Sekten schotten ihre Mitglieder oft ganz von der Außenwelt ab und zwingen sie zu einem Leben unter menschenunwürdigen Bedingungen. In einigen Fälle führt die blinde Gefolgschaft bis in den gewaltsamen Tod.
Mai 2008: Nach fast 200 Tagen in einer Erdhöhle kommen die letzten Anhänger einer Weltuntergangssekte im russischen Gebiet Pensa ans Tageslicht. Im November 2007 hatten sich mehr als 30 Menschen, darunter auch Kinder, in ein unterirdisches Tunnelsystem zurückgezogen. Sie wollten dort auf das Ende der Welt warten. Das Tunnelsystem war von ihrem spirituellen Führer Pjotr Kusnezow angelegt worden, der allerdings nicht mit in die Tiefe ging.
Oktober 1994: 53 Mitglieder des „Ordens der Sonnentempler“ werden tot aufgefunden – 48 in der Schweiz und 5 in Kanada. Die verkohlten Leichen weisen Einschüsse und Spuren von Injektionen auf.
In den französischen Alpen werden
1995 die Leichen von 16 Mitgliedern der Sekte gefunden. Im Haus eines Sonnentemplers im kanadischen Provinz Quebec finden Feuerwehrleute
1997 fünf Tote. Vier der Leichen lagen kreuzförmig übereinander. Drei Jugendliche überleben das Todesritual. Als sie entdeckt werden, stehen sie unter Drogen.
April 1993: Mindestens 81 Menschen verbrennen im Anwesen der Davidianer-Sekte im texanischen Waco, darunter viele Kinder. Vermutlich legten Sekten-Mitglieder das Feuer selbst, als die Polizei das Gelände nach 51 Tagen Belagerung stürmte. Der selbsternannte Prophet David Koresh hatte seine „Ranch Apokalypse“ zu einer Festung mit unterirdischem Tunnelsystem ausbauen lassen. Seine Gefolgsleute zwang er, nach seinen Regeln zu leben. Männer, Frauen und Kinder mussten täglich bis zu 15 Stunden beten. Koresh nahm sich selbst das Recht, mit Frauen anderer Sektenmitglieder schlafen zu dürfen.
November 1978: In der Siedlung Jonestown im Dschungel des südamerikanischen Landes Guyana begehen 923 Mitglieder der Volkstemplersekte aus den USA den wohl größten Massensuizid in der Geschichte. Zuvor hatte ihr Anführer Jim Jones einen US-Kongressabgeordneten und vier seiner Begleiter erschießen lassen. Diese wollten feststellen, ob die Bewohner des Dorfes gegen ihren Willen festgehalten wurden. Die wenigen Überlebenden berichteten, dass unter den Opfern des Massakers auch Unfreiwillige gewesen seien. (dpa)
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