JUSTIZ
“Jedem das Seine“: Nazi-Spruch oder Gerechtigkeitstheorie?
Der Spruch „jedem das Seine“ rutscht einem heute sehr leicht über die Lippen. Gemeint ist damit dann meistens, dass der Geschmack oder die Interessen des Gegenübers nicht dem eigenen Gusto entsprechen, man diesbezüglich aber kein Werturteil aufstellen will. Was viele nicht wissen: Der Spruch ist höchst problematisch, weil er unter anderem von den Nationalsozialisten verwendet wurde. Ursprünglich geht er aber auf verschiedene philosophische Ansichten und Gerechtigkeitstheorien zurück. Wir haben uns angesehen, was hinter „Jedem das Seine“ steckt und ob der Satz heute noch verwendet werden sollte.
„Suum cuique“ – Verwendung in der Antike
Der Grundsatz „Jedem das Seine“ geht natürlich auf die griechische Antike zurück. Wie könnte es auch anders sein? In seinem Werk „Politeia“ stellte Platon fest, dass Gerechtigkeit besteht, „wenn man das Seine tut und nicht vielerlei Dinge treibt“. Wer das gibt, was seine Möglichkeiten und Umständen erlauben, solle im Gegenzug auch „das Seine bekommen“, das einem dann auch nicht wieder weggenommen werden könne. Mit dieser „Verteilungsgerechtigkeit“ beschäftigten sich auch Aristoteles und Cicero. „Unrecht“ sei deswegen ein „Zuviel“ oder ein „Zuwenig“ für den:die Einzelne:n.
Im Corpus Iuris Civilis, einer Gesetzessammlung, die von 528 bis 534 n. Chr. im Auftrag des oströmischen Kaisers Justinian zusammengestellt wurde, taucht der Spruch sogar in der Einleitung auf. Darin heißt es:
„iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere“. Übersetzt:
„Die Gebote des Rechts sind diese: Ehrenhaft leben, den anderen nicht verletzen, jedem das Seine gewähren.“
Klingt logisch? Ist es auch! Probleme ergeben sich aber dabei, nach welchen Kriterien Güter oder Lohn verteilt werden. Und dieses Verteilungsproblem kennen wir auch heute noch. Ist es gerechtfertigt, dass ein Ausnahmetalent im Fußball viele Millionen kassiert? Darf ein:e Manager:in das zehnfache seiner:ihrer Angestellten erhalten, nur weil mit der Position ein „Mehr“ an Verantwortung einherkommt? Oder sollten Pflegekräfte und andere soziale Berufe nicht genauso viel verdienen? Weil ihre Arbeit für eine Gesellschaft unverzichtbar ist?
Wiederentdeckung zu Zeiten der Aufklärung
Das Motto „Jedem das Seine“ findet sich aber auch bei dem Rechtsphilosophen und Vordenker der Aufklärung Hugo Grotius. In der Rechtsphilosophie existieren verschiedene sogenannte „Eigentumstheorien“, die zu erklären versuchen, wie die gesellschaftliche Institution des Eigentums entstanden ist und wie man deren Existenz rechtfertigen kann. Grotius vertritt dabei die Ansicht, dass das Recht an der eigenen Person angeboren ist, während es sich beim Eigentum um ein erworbenes Recht handelt.
„[D]IE GESELLSCHAFT HAT DEN ZWECK, MIT GEMEINSAMEN KRÄFTEN UND IM ZUSAMMENWIRKEN ‚JEDEM DAS SEINE‘ ZU ERHALTEN (UT SUUM CUIQUE SALVUM SIT). DIES WÜRDE OFFENBAR AUCH DANN STATTFINDEN, WENN DAS EIGENTUM (DOMINIUM), WIE MAN ES JETZT VERSTEHT, NICHT EINGEFÜHRT WÄRE. DENN DAS LEBEN, DIE GLIEDER UND DIE FREIHEIT (VITA, MEMBRA, LIBERTAS) WÜRDEN AUCH DANN JEDEM ZU EIGEN GEHÖREN, SO DASS DIE NICHT OHNE UNRECHT VON EINEM ANDEREN ANGEGRIFFEN WERDEN KÖNNEN. EBENSO WÜRDE DAS RECHT DES BESITZERGREIFENDEN SEIN (IUS (…) ESSET OCCUPANTIS), DIE ALLEN ZU GEBOTE STEHENDEN DINGE ZU GEBRAUCHEN.“
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Die lateinische Form
“suum cuique” ist bis heute Bestandteil der an den Decken von Gerichtsgebäuden angebrachten Gerechtigkeitsformel. Wir fragen uns: Muss das wirklich sein? Im privaten Sprachgebrauch sollte man auf „Jedem das Seine“ jedenfalls außerhalb der Rechtsphilosophie-Vorlesung im Hinblick auf die NS-Vergangenheit des Satzes verzichten.
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