Der Spiegel / 04.11.2020
Rabin-Ermordung vor 25 Jahren
"Gestern wachte ich in einem Albtraum auf"
Davon hat sich Israel bis heute nicht erholt: Ein jüdischer Extremist erschoss 1995 Friedensnobelpreisträger Jitzchak Rabin. Die Enkelin hielt eine berührende Trauerrede – und die Friedenshymne verstummte.
Nein, ein geborener Sänger war Jitzchak Rabin nicht. Aber in dieses Lied wollte er einstimmen, es war der Soundtrack zu seiner Politik. Also nahm Rabin den Liederzettel und sprach ehrfurchtsvoll den Refrain von "Shir laSchalom", dem "Lied für den Frieden":
"Darum singt das Lied des Friedens, flüstert keine Gebete, trotz allem singt das Lied des Friedens, mit einem großen Schrei!"
Kurz darauf, am 4. November 1995 gegen 21.45 Uhr, lag
Israels Premier und
Hoffnungsträger in einer Blutlache, von
hinten niedergestreckt mit zwei Schüssen. Der
nationalreligiöse, jüdische Jurastudent Jigal Amir wollte Rabins Friedenspolitik mit den Palästinensern verhindern.
Blut und Frieden
Rabins blutgetränkter Liederzettel wurde zum Symbol des Terroraktes und des Traumas, das Israel bis heute beschäftigt: Ein Jude hatte einen Juden ermordet, weil er selbst sich als Werkzeug Gottes wähnte – und Frieden für Verrat am Heiligen Land hielt.
Stunden zuvor hatten sich an diesem verhängnisvollen Abend mehr als 100.000 Israelis auf dem "Platz der Könige Israels" in Tel Aviv versammelt. Bei milden Temperaturen tanzten sie ausgelassen in T-Shirts. Die Volksfeststimmung war, trotz massiver Sicherheitsvorkehrungen mit Scharfschützen und Hubschraubern, eine beeindruckende Unterstützung der Politik Rabins. Dafür hatte er zusammen mit seinem Außenminister Shimon Peres und PLO-Chef Jassir Arafat im Vorjahr den
Friedensnobelpreis erhalten.
Ein fairer Ausgleich zwischen Palästinensern und Israel, die heute so illusorisch klingende Zweistaatenlösung – das alles schien nach den von Rabin vorangetriebenen Osloer Abkommen greifbar wie nie. Erstmals hatten sich PLO und Israel als Verhandlungspartner anerkannt und das Prinzip der palästinensischen Selbstverwaltung vereinbart. Ein großer Teil der israelischen Bevölkerung stand dahinter und sehnte sich nach Frieden.
Radiosender spielten "Shir laSchalom" rauf und runter, es war die Hymne der damals einflussreichen Friedensbewegung. Das Lied machte Miri Aloni noch populärer. Die blonde Sängerin hatte es schon seit Jahren auch im Fernsehen vorgetragen und sollte am 4. November auftreten. Noch nie hatte Aloni live vor so vielen Menschen gesungen.
"Lasst die Sonne aufgehen"
"Diese Regierung hat sich entschieden, dem Frieden eine Chance zu geben", erklärte Rabin in seiner Rede am Abend und prophezeite, die Aussöhnung mit den Palästinensern werde "die meisten Probleme Israels lösen".
Das sagte der Mann, der als Held des Sechstagekriegs von 1967 eine lange militärische Karriere hinter sich hatte. Der als Verteidigungsminister während der ersten Intifada noch gedroht hatte, steinewerfenden Palästinensern "Hände und Beine zu brechen". Das alles ist kein Widerspruch in Israel, wo Spitzenpolitiker traditionell aus dem Militär kommen. Rabins Wandel vom Hardliner zum Verhandler und Versöhner empfanden nicht nur politische Freunde als aufrichtig.
"Lasst die Sonne aufgehen, den Morgen zu erleuchten."
Geigen und Gitarren begleiteten die Sängerin, die ihr Lied in zwei Sprachen vortrug: auf Arabisch und Hebräisch.
"Auch das stärkste Gebet wird ihn nicht wiederkehren lassen, den, dessen Licht ausgelöscht, der im Staub begraben liegt. Bitteres Weinen wird ihn nicht erwecken und nicht zurückbringen. Niemand wird uns je antworten aus der Grube unter Asche. Da helfen weder Siegestaumel noch Lobeslieder."
"Wir schrien und weinten"
Der düstere Text wandelt sich mit dem Refrain. Der zweite Teil feiert die Hoffnung und Liebe, fordert den Mut, nach vorn zu schauen und Kriege hinter sich zu lassen.
"Sagt nicht: 'Der Tag wird kommen'. Bringt ihn her, diesen Tag, denn es ist kein Traum. Dann wird man auf allen Straßen und Plätzen nur den Frieden besingen."
Der 4. November aber ging als der Tag in die Geschichte ein, an dem auf Israels Straßen und Plätzen getrauert wurde. Als Aloni spätabends zu Hause den Fernseher anschaltete, war Rabin schon seinen Verletzungen erlegen. Er hatte so viel Blut verloren, dass die Ärzte im Krankenhaus ihn nicht retten konnten.
...
Das Land trieben nun drei Fragen um:
Warum dieser Mord? Wie konnte der Sicherheitsapparat derart versagen? Und was wird aus dem Friedensprozess, den Rabins Nachfolger Shimon Peres fortzuführen versprach?
Nicht wenige Kommentatoren trauten ihm das nicht zu. Zu groß die Bürde, zu schwach sein Rückhalt. Andere Journalisten erinnerten an das Gift, das lange schon die israelische Gesellschaft zersetzte. An die politischen Gegner Rabins wie
Benjamin Netanyahu, ein
Gegner der
Osloer Verträge.
Ein Klima des Hasses
Wochen vor dem Attentat hatte
Netanyahu in Jerusalem einer aufgepeitschten Menge an Rabin-Gegnern zugewunken: Siedlern, Nationalreligiösen, Anhängern seiner rechtskonservativen Likud-Partei. Es war die Zeit, in der Demonstranten Rabin als Verräter beschimpften, ihn symbolisch im Pappsarg zu Grabe trugen oder auf Fotomontagen in SS-Uniform zeigten.
Ein "Idiot" habe das Attentat ausgeführt, sagte 2015 Adi Eldar, ein einstiger Weggefährte Rabins. "Aber man muss sich immer daran erinnern, dass es neben dem Finger, der den Abzug gedrückt hat, noch viele andere Finger gibt, die heute in Israel an der Macht sind." Er meinte besonders Dauer-Premier
Netanyahu.
...
Derweil wurde die Neuwahl 1996 in Israel zur
Chance für Hardliner auf israelischer und palästinensischer Seite, Rabins Erbe zu torpedieren. Palästinensische Selbstmordattentäter sprengten sich in die Luft und halfen damit letztlich
Netanyahu, der Ängste vor den Oslo-Abkommen schürte und einen "sicheren Frieden" versprach. Knapp schlug er den Favoriten Peres.
Seitdem lebt das Land in einem ewigen Konjunktiv: Was wäre gewesen, wenn Rabin überlebt hätte? Endete mit ihm eine einmalige, historische Chance? Oder wäre selbst Rabin an Vertragsdetails und Widerständen gescheitert? Führte seine Ermordung zu einer Verklärung seiner Politik?
...
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