bpb / 28.04.2023 / von Muriel Asseburg - Teil A -
Israel
75 Jahre nach der Nakba
Die Katastrophe dauert an
Während die Gründung Israels 1948 für Jüdinnen und Juden einen sicheren Zufluchtsort schaffte, steht sie für die Palästinenserinnen und Palästinenser für die
"Katastrophe".
Dieses Jahr feiert Israel sein
75-jähriges Bestehen und damit auch die
Etablierung eines sicheren Zufluchtsortes für Jüdinnen und Juden aus aller Welt. Zugleich jährt sich zum
75. Mal die
Nakba (arabisch: "Katastrophe"), also die
Flucht und
Vertreibung der meisten ansässigen Palästinenser aus dem heutigen Staatsgebiet Israels. Für Palästinenser ist die
Nakba nicht nur ein Ereignis, das in der Vergangenheit liegt. Vielmehr beschreiben sie mit dem Begriff auch ihre
aktuelle Lebensrealität.
Denn bis heute ist das palästinensische Streben nach nationaler Selbstbestimmung nicht erfüllt, leben die Flüchtlinge und ihre Nachkommen, oft staatenlos, im Exil, werden palästinensische Staatsbürger Israels diskriminiert und Palästinenser in den besetzten Gebieten
verdrängt. Nach wie vor dauert auch der
– asymmetrische – Konflikt um das
ehemalige britische Mandatsgebiet Palästina an. Eine friedliche Regelung des Territorialkonflikts und der Flüchtlingsfrage ist heute weniger absehbar denn je. Dies zwingt auch die deutsche Politik, zu überdenken, wie die historische Verantwortung mit einem zielführenden Beitrag zur friedlichen Konfliktbearbeitung in Nahost in Einklang gebracht werden kann.
Die Katastrophe von 1948
Die Nakba markiert eines der zentralen Daten, wenn nicht das zentrale Datum in der Geschichte der Palästinenser. Denn die Ereignisse rund um die israelische Unabhängigkeit bedeuteten für die ansässige palästinensische Gesellschaft eine traumatische Wende, die bis heute fortwirkt und die
palästinensische Identität prägt. Die Nakba bezeichnet dabei die Flucht und Vertreibung eines Großteils der palästinensischen Einwohner aus dem heutigen Staatsgebiet Israels:
Zwischen 1947 und 1949 sahen sich zwischen 700000 und 750000 Palästinenser gezwungen, das Gebiet zu verlassen. Zugleich bedeutete die Etablierung Israels im größten Teil des ehemaligen britischen Mandatsgebiets Palästina (auf rund 77 Prozent) den dauerhaften Verlust großer Teile des Territoriums, auf dem ein palästinensischer Staat hätte entstehen können.
Die
dominante israelische Geschichtsschreibung stützte über lange Zeit das offizielle Narrativ des Staates: Die ansässigen Palästinenser seien vor allem infolge der
Propaganda der arabischen Staaten geflohen.
Nach
Öffnung der
Archive ab Mitte der
1980er Jahre deckten die sogenannten neuen Historiker jedoch auf, dass es auch
gezielte Vertreibungen, systematische Zerstörungen palästinensischer Dörfer und Städte sowie
Massaker und
Plünderungen gegeben hatte. Denn Israel sollte ein Staat mit jüdischer Bevölkerungsmehrheit und ein sicherer Zufluchtsort für Jüdinnen und Juden aus aller Welt sein.
In diesem Zusammenhang wurde unter anderem die Bevölkerung von über
400 arabischen Dörfern
vertrieben oder
flüchtete, die meisten dieser Dörfer wurden
zerstört und
unbewohnbar gemacht. Verantwortlich dafür waren in der Regel nicht nur Kriegsschäden, sondern auch
gezielte Aktionen der
israelischen Armee beziehungsweise
ihrer Vorläufer und
zionistischer Siedler. Zu Flucht und Vertreibung kam es in beiden Phasen des israelischen Unabhängigkeitskrieges, also sowohl vor der Ausrufung des Staates Israel als auch während des ersten israelisch-arabischen Krieges, also nach dem Angriff einer Koalition arabischer Staaten auf Israel.
Die
UN-Generalversammlung postulierte in ihrer
Resolution 194 vom Dezember
1948 das
Recht der
palästinensischen Flüchtlinge, in ihre Häuser
zurückzukehren, wenn sie bereit wären, in
Frieden mit ihren
Nachbarn zu leben. Zudem sollten sie
Entschädigung für
verloren gegangenes Eigentum erhalten.
Die
israelische Regierung lehnte jedoch im Juni 1948 die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge kategorisch ab, und das israelische Militär
verhinderte gewaltsam Rückkehrversuche einzelner Flüchtlinge. 1952 nahm die Knesset ein Staatsbürgerschaftsgesetz an, das Jüdinnen und Juden aus aller Welt ein "Rückkehrrecht" auf der Grundlage des Rückkehrgesetzes von 1950 einräumte, geflüchtete Palästinenser aber von der israelischen Staatsbürgerschaft und der Rückkehr
ausschloss. 1954 beschloss die Knesset ein
Gesetz zur
Verhinderung von Infiltration, das vorsah, die
Rückkehr auch mit
Waffengewalt zu verhindern.
"Fremde im eigenen Land"
In Israel verblieben rund 150000 Palästinenser, die zunächst unter
Kriegsrecht gestellt wurden. Rund ein Drittel von ihnen wurde zu Binnenflüchtlingen, die in der Regel nicht in ihre Heimatdörfer und -städte zurückkehren durften. Damit traf sie zumindest teilweise das gleiche Schicksal wie die Flüchtlinge:
Ihr Besitz wurde enteignet und dem Custodian for Absentee Property (Treuhänder für den Besitz Abwesender) und damit dem israelischen Staat übergeben.
Insgesamt wurden so etwa
70 Prozent des Landes, das in arabischem Besitz war,
enteignet und für den Bau
jüdischer Siedlungen zur Verfügung gestellt. Auch wurden die Palästinenser nicht als gleichberechtigte Staatsbürger wahrgenommen, sondern in erster Linie als potenzielle fünfte Kolonne der feindlich gesinnten arabischen Nachbarstaaten und damit als Sicherheitsrisiko. Das
Militärrecht galt für palästinensische Israelis bis
1966. Ihre
Grundrechte, etwa die
Bewegungs- und
Vereinigungsfreiheit, waren s
tark eingeschränkt; auch durften sie zunächst
keine eigenen Parteien bilden. So führten sie ein Leben als
"Fremde im eigenen Heimatland", wie es der palästinensische Nationaldichter Mahmud Darwisch ausdrückte.
Entwurzelte Nation
Die Nakba erschütterte die palästinensische Gesellschaft massiv. Die meisten Palästinenser flohen ins
Westjordanland (rund 280000), in den
Gazastreifen (rund 190000) sowie in die benachbarten
arabischen Länder Libanon (100000),
Syrien (75000) und
Jordanien (70000).
Auch wenn sich die konkreten Bedingungen in den Aufnahmestaaten unterschieden: Das Flüchtlingsdasein, oft als
Staatenlose, wurde zur prägenden Lebensrealität für das Gros der Palästinenser. In den meisten Ländern wurden sie nicht mit offenen Armen empfangen, sondern waren gezwungen, ihr Dasein in trostlosen
Flüchtlingslagern zu fristen, die sich im Laufe der Jahre von Zeltstädten zu eng bebauten Stadtvierteln entwickelten und meist besonderen
Zugangs- und
Sicherheitsbeschränkungen unterlagen.
Hunderttausende wurden dauerhaft von internationaler Hilfe abhängig, da sie ihre Existenzgrundlage
verloren hatten und sich in den Aufnahmeländern mit unterschiedlich strikten Beschränkungen von Arbeitsmöglichkeiten, Eigentumserwerb sowie Reise- und Niederlassungsfreiheit konfrontiert sahen. Auch das
soziale Gefüge geriet durcheinander:
Familien und Dorfgemeinschaften wurden durch die Flucht auseinandergerissen; ehemals einflussreiche palästinensische Familien büßten in der Diaspora an Bedeutung ein. Die traumatischen Ereignisse von 1948 prägten die gesamte Gesellschaft.
Zudem war und ist der Status der palästinensischen Flüchtlinge in den Aufnahmeländern prekär. Die Positionierung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) in regionalen Konflikten sowie die bewaffneten Aktivitäten militanter palästinensischer Gruppen vergifteten immer wieder das Verhältnis zu den lokalen Gesellschaften und den herrschenden Eliten. Sie provozierten nicht nur Gewalt gegen Guerillakämpfer, sondern auch gegen die Flüchtlingsbevölkerung und führten wiederholt zur Ausweisung von palästinensischen Flüchtlingen und Arbeitsmigranten. Beispielhaft für diese Dynamiken stehen der Jordanische Bürgerkrieg 1970, auch als Schwarzer September bekannt, das
Massaker in den Flüchtlingslagern
Sabra und
Schatila im
Libanon 1981 und die Ausweisung von rund 400000 Palästinensern aus Kuwait im Zusammenhang mit dem Irak-Kuwait-Krieg 1990/91. In Syrien litten die palästinensischen Flüchtlinge ab 2012 in besonderem Maße unter dem internationalisierten Bürgerkrieg: Das größte Flüchtlingslager Jarmuk in Damaskus war jahrelang umkämpft und eingekesselt, die Versorgungslage katastrophal. Im Zuge der Kämpfe wurde das Lager nahezu
vollständig in Schutt und Asche gelegt. Mehr als zwei Drittel der in Syrien ansässigen palästinensischen Flüchtlinge wurden zu Binnenvertriebenen. Die Nachbarstaaten Libanon und Jordanien verwehrten ihnen in der Regel die Einreise.
...
https://www.bpb.de/shop/zeitschrifte...ach-der-nakba/