Der Militärputsch 1964
Anfang des Jahres 1964 wusste Präsident Goulart bereits von den Vorbereitungen eines Militärputsches gegen ihn, auch dass dieser vom Militärattaché der amerikanischen Botschaft, Coronel Vernon Walters, koordiniert wurde. Er stützte sich auf seinen Rückhalt im Volk und rief zu Demonstrationen zur Unterstützung einer Verfassungsänderung auf, die seine Reformen ermöglicht hätte.
Am 31. März 1964 inszenierte ein CIA-Agent innerhalb der brasilianischen Marine eine Pro-Goulart-Demonstration von 200 Matrosen, die als Vorwand für den Militärputsch diente.
Der Putsch wurde begleitet von Demonstrationen bürgerlicher katholischer Organisationen; das Kleinbürgertum und die Bourgeoisie begrüßten die Wiederherstellung der Ordnung. Zwei von der PCB dominierte Panzerdivisionen in Rio de Janeiro versuchten in den ersten Tagen noch einen Gegenputsch loszutreten, doch dieser missglückte und die kommunistischen Soldaten wurden eingesperrt. Die PCB rief am 31. März einen Generalstreik in Rio de Janeiro aus, der sich jedoch als taktischer Fehler offenbarte, da er das Proletariat quasi „stilllegte“ und den Putschisten die Straßen überließ. Somit waren keine widerständigen Volksmassen in der Stadt präsent. Zeitgleich begann die Jagd auf die Mitglieder der kommunistischen Partei. Prestes war im Untergrund, einige andere, die sich in Rio de Janeiro befanden, unter ihnen Marighella, redigierten einen Diskussionsvorschlag, in dem die pazifistische Politik des Paktes mit der Bourgeoisie revidiert wurde und in dem sie zum Widerstand gegen den Militärputsch aufriefen.
Spontanen Widerstand gab es in den ersten Tagen vor allem von den organisierten Studenten, die am Abend des 31. März im Zentrum Rio de Janeiros im FNFi (Philosophie-Institut) und im CACO (Jura-Akadamie) „Teach-Ins“ zum Schusswaffen-Gebrauch abhielten. Verschiedene PCB-Abspaltungen hatten in den folgenden Jahren ihren Ursprung in der studentischen Fraktion der PCB. Diese verfolgten das Ziel, sich der Militärdiktatur offensiver als es die Parteilinie vorsah zu widersetzen.
Nachdem die PCB unter Prestes sich weigerte, ihre strategische Verirrung zuzugeben und den bewaffneten Widerstand zu organisieren, bildeten sich in ganz Brasilien “Dissidências do PCB” (Abspaltungen), die häufig der Ausgangspunkt für die neuen Stadtguerilla-Organisationen wurden, allen voran die ALN.
Leonel Brizola, der der sozialdemokratischen PTB (Partido Trabalhista Brasileiro – Arbeiter Partei Brasiliens) angehörte, ging ins Exil nach Uruguay und versuchte von dort aus, einen bewaffneten Widerstand zu koordinieren, der jedoch nie zustande kam. Später beteiligten sich Aktivisten der PTB an der Stadtguerilla in Porto Alegre.
Mit dem Putsch begann eine große Repressionswelle gegen die revolutionäre Linke. Die Organe der Repression waren sowohl die politische Polizei, das DOPS (Abteilung für Politische und Soziale Ordnung), und der Geheimdienst (SNI), als auch, denn es war ja ein Militärputsch, die Nachrichtendienste von Marine (CENIMAR), Luftwaffe (CISA) und Heer (CIE).
In der ersten Phase wurden 4000 politische Oppositionelle verhaftet. Die PCB ging in die Defensive. Carlos Marighella wurde in einem Kino in Rio de Janiero vom DOPS gestellt. Diese legendäre Szene stellte sich folgendermaßen dar:
Durch laute Rufe wies er darauf hin, dass er unbewaffnet sei, kein Krimineller, sondern Kommunist und die „Ganoven“ ihn umbringen wollen. Ein Schuss trifft ihn in die Brust, verletzt jedoch weder Herz noch Lunge und so wird er unter Schlägen in einen Lieferwagen vor dem Kino gezerrt, wobei er unaufhörlich „Nieder mit der Diktatur, es lebe der Kommunismus, es lebe die Demokratie!“ skandiertt.
Durch das Aufsehen, das er bei seiner Verhaftung erregt, ist der öffentliche Druck auf das DOPS groß. Er wird in ein Krankenhaus gebracht und nicht gefoltert bzw. getötet. Einige Tage später stattete ihm der als Staatsanwalt agierende General der Junta im Gefängnis einen Besuch mit Presse ab. Während dieses Termins zog sich Marighella das Hemd aus und zeigte den Pressevertretern seine Einschusslöcher. Zudem denunzierte der die Folter an den anderen politischen Gefangenen. Zwei Monate später musste er freigelassen werden. Er tauchte sofort ab, da gegen ihn bereits eine Präventivhaft verordnet worden war.
Im Untergrund publizierte er das Buch „Porque resistí a Prisão“ („Warum ich gegen meine Verhaftung Widerstand leistete“), in dem er zum Widerstand gegen die Militärdiktatur agitiert.
Er wollte öffentlich ein Symbol des Widerstands gegen die neuen Machthaber setzen, die „die Interessen der Ausbeuter repräsentierten und verteidigten.“
Da die Militärdiktatur die Interessen der USA durchsetzte ($ 425 Millionen-Kredit an die Militärjunta, Ernennung von US-nahen Generälen für die Ministerien für Wirtschaft und Planung), sei ein Bündnis mit der fortschrittlichen nationalen Bourgeoisie unumgänglich.
Allerdings nicht auf dem pazifistischen Weg, den die PCB vertrat, denn „eine friedliche Revolution (sei) durch die Gewalt der Feinde des Volkes in weite Ferne gerückt“. Nur bewaffneter Widerstand würde, so Marighella, „Unabhängigkeit und sozialen Fortschritt“ erkämpfen können. Er warnte davor, dass das neue Regime sich die durch eine Schein-Verfassung eine bürgerlich-demokratische Fassade geben könnte.
Die PCB sah diese Äußerungen Marighellas als Provokation an. Die Analyse des Putsches befand sie zwar als korrekt, doch was den bewaffneten Widerstand betraf, vertrat Marighella eine der Parteilinie entgegengesetzte Position. Durch die Umstände der Klandestinität wurde Marighellas Positionierung jedoch erst bei einem Treffen des ZK im Mai 1965 offiziell thematisiert. Marighella wich der offenen Konfrontation mit der Parteiführung aus, um seine Position im ZK zu erhalten und einem potentiellen Ausschluss zu begegnen. Er versuchte seine Stellung als ZK-Mitglied zu nutzen, um innerhalb der Partei Zustimmung für den bewaffneten Kampf zu sammeln. Dieser Taktik der internen Opposition schlossen sich mehrere Mitglieder des ZK an: Mario Alves (später PCBR), Apolônio de Carvalho (später PCBR und ALN), Jacob Gorender und Antonio Câmara Ferreira (später ALN).
1965 veröffentlichte Marighella den Aufsatz „A Crise Brasileira“ („Die Brasilianische Krise“), in der er die brasilianische Ökonomie im Kontext der weltweiten kapitalistischen Krise analysierte. Danach hatte sich das Regime mittlerweile stabilisiert. Und entgegen der Analysen der PCB hatte sich die nationale Bourgeoisie sehr gut mit der imperialistischen Dominanz arrangiert. Die brasilianische Bourgeoisie ging eine Allianz mit dem US-Imperialismus ein, der deren Interessen keineswegs beschnitten hatte, sondern vielmehr ein Wirtschaftswunder nach dem Muster des IWF einleitete. Daher distanzierte sich Marighella mit diesem Papier von der Strategie der PCB, die nach wie vor auf ein Bündnis unter der Führung einer (fiktiven) national-progressiven Bourgeoisie setzte.
Der organisierte bewaffnete Widerstand spielte in den strategischen Überlegungen der PCB keine Rolle und wurde folgerichtig abgelehnt.
Stattdessen müsse, so Marighella inhaltlich, der bewaffnete Kampf im Verbund mit allen anti-diktatorischen Kräften bis zum revolutionären Bürgerkrieg verfolgt werden. Allerdings betonte er, dass nur die Hegemonie der Kommunisten in dieser angestrebten „Antifaschistische Einheitsfront“ verhindern würde, nicht in einem weiteren bürgerlichen Staat zu enden.
Ein solcher wäre ohnehin nicht in der Lage, die notwendigen Veränderungen in der brasilianischen Gesellschaft herbeizuführen, sich vom US-Imperialismus zu emanzipieren und den Großgrundbesitz aufzulösen.
Außerdem kritisierte er die Fixierung der PCB auf die urbanen Zentren und die Vernachlässigung der Landarbeiter und der Agrar-Frage. Dieses Papier erzwingt die interne Partei-Debatte, vor allem weil Marighella seine Stellung im ZK geschickt einzusetzen verstand, um seine Thesen innerhalb der Parteigliederungen zu verbreiten.
In der zweiten Hälfte des Jahres erklärte Marighella seinen Rücktritt aus dem ZK, das zu diesem Zeitpunkt in zwei Fraktionen gespalten war. Zudem kritisierte er, dass seit dem Putsch von ’64 vom ZK keine Orientierung mehr für die Partei ausgegangen sei. Er war jedoch weiterhin Generalsekretär der PCB im Bundesstaat São Paolo, wo er auch den meisten Einfluss hatte. Im April 1967 erschien Prestes persönlich bei einer Versammlung in São Paolo, um gegen die erneute Kandidatur Marighellas anzutreten. Doch von 37 Delegierten entschieden sich 33 für Marighella und den bewaffneten Kampf. Das ZK annulliert im Nachhinein sowohl die Wahl als auch die Mandate der Delegierten, die somit nicht am 6. Parteitag 1967 teilnehmen können. (Dieser parteiinterne „Vorgang“ wiederholt sich in Rio de Janeiro und in Rio Grande do Sul)
Im März 1967 gab sich die Militärjunta, wie von Marighella vorhergesagt, die demokratische Fassade einer Scheinverfassung. Der bisherige Präsident General Costa e Silva wurde vom General Castelo Branco abgelöst. Zwei Parteien wurden gegründet: die Regierungspartei Arena (Allianz Erneuerung Brasiliens, Vorsitzender Filinto Müller) und die Oppositionspartei MDB (Demokratische Bewegung Brasiliens). Der Präsident regierte weiterhin per Dekret und erließ als erstes ein Pressegesetz und ein Gesetz der Nationalen Sicherheit. Mit diesen „gesetzlichen“ Grundlagen wurde die Zensur (1968 wurden 44 Theaterstücke verboten) und die politische Justiz wieder eingeführt.
Marighella nahm im Sommer 1967 an der Konferenz der OLAS (Lateinamerikanische Solidaritäts-Organisation) in Kuba teil. Auf der OLAS-Konferenz kamen 700 Delegierte aus 22 lateinamerikanischen Ländern zusammen. Sie war ein Versuch der kubanischen Revolutionsregierung, den bewaffneten Kampf auch auf dem Kontinent anzustoßen und zu koordinieren.
Die SU verfolgte seit dem II. Weltkrieg eine Politik der Nicht-Unterstützung bewaffneter Revolutionen, auch wenn eine partielle (materiell-militärische) Hilfe hier und da gewährt wurde. Kuba war isoliert und hatte ein unmittelbares Interesse an einem revolutionären Prozess in anderen lateinamerikanischen Ländern. Da die meisten KP’s in Lateinamerika SU-hörig waren, befolgten sie die Linie des „friedlichen Übergangs“ zum Sozialismus über die Etappe einer bürgerlichen antiimperialistischen „Revolution“. Die OLAS sollte die dem bewaffneten Kampf zugeneigten oppositionellen Kreise innerhalb und außerhalb der KP’s unterstützen und vernetzen. Sie hatte keinen bindenden organisatorischen Charakter wie die KI.
Apolônio de Carvalho zufolge begann Marighella in Kuba von den Ideen Régis Debrays beeinflusst zu werden, einen Einfluss, den Carvalho als negativ bewertete, vor allem hinsichtlich der Bedeutung einer Kommunistischen Partei in der Revolution. Debray hatte, entgegen der Erfahrung der kubanischen Revolution, begonnen, eine Theorie der bewaffneten Revolution ohne Kommunistische Partei zu vertreten.
Im September 1968 wurden Marighella, Joaquim Câmara Ferreira, Apolônio de Carvalho, Jover Telles, Mario Alves, Jacob Gorender und andere Oppositionelle aus „disziplinarischen Gründen“ aus der Partei ausgeschlossen, so dass Prestes auf dem 6. Parteitag keine (starke) innerparteiliche Opposition zu befürchten hatte. Tatsächlich hatten sich die Befürworter des bewaffneten Kampfes darauf vorbereitet, die Parteilinie auf dem 6. Parteitag zu kippen. Als sie jedoch mitbekamen, dass der Parteitag zu ihrem Nachteil strukturiert wurde, bereiteten sie die Gründung einer neuen Partei vor, der PCBR. Sie schätzten, dass sich etwa die Hälfte der 12000 PCB-Mitglieder der neuen KP anschließen würde.
Marighella jedoch, der in Kuba über dieses Projekt informiert wurde, war von der Idee nicht begeistert: „Ich werde nicht den Fehler begehen, eine dritte Partei aufzubauen.“
Nach dem Ausschluss gründeten Mario Alves und Aplônio de Carvalho die PCBR. Allerdings erhielt die PCBR weniger Zulauf als erwartet wurde. Die PCBR gründete sich vor allem, um eine „linkere kommunistischere“ Politik als die PCB zu vertreten und legte daher erst einmal ihren Schwerpunkt auf die Propaganda-Arbeit unter den Massen. Ab 1969 beteiligte sie sich aber auch am Aufbau und der Praxis der Stadtguerilla.
Marighella befasste sich zu diesem Zeitpunkt mit den komplexen Voraussetzungen, um in Brasilien eine Guerilla aufzubauen. Dazu verfasste er den Text „Algumas Questões sobre a Guerillha no Brasil“ („Einige Fragen bezüglich der Guerilla in Brasilien“). In diesem Papier unterteilte er den Guerillakrieg in drei Abschnitte: Vorbereitung, Beginn/Überleben, Wachstum/Stellungskrieg.
1. Die Vorbereitung muss von ideologisch gefestigten Kadern vorgenommen werden, die Regionen auskundschaften, Waffen und andere Logistik beschaffen und sich durch Training auf den Guerillakampf vorbereiten. Diese Phase findet in den Städten und unter absoluter Klandestinität statt.
2. Wenn die Vorbereitungen getroffen sind, muss sich die Guerilla in die inneren, unzugänglicheren Gebiete im Westen des Landes begeben, um der sogenannten strategischen Umzingelung der Repression auszuweichen. Die Streitkräfte der Regierung konzentrierten sich in den urbanen Zentren an der Küste, hier stehen ihnen die moderne Infrastruktur und ein bereits bewährtes logistisches Netz zur Verfügung. Durch die Verlagerung des Kampfes in das Landesinnere müssen sich die Streitkräfte in unbekanntes Gebiet begeben, neue Versorgungswege aufbauen, sich neu aufstellen. Sie versuchen nun, die taktische Umzingelung der Guerilla zu erreichen, um sie physisch und strukturell auszulöschen. An diesem Punkt, wenn die Streitkräfte aus den städtischen und industriellen Ballungszentren abgezogen werden, um die Guerilla in den entlegeneren Gebieten zu bekämpfen, fallen ihnen die revolutionären Organisationen in den Städten in den Rücken. In dieser Phase verlieren die Methoden der pazifistischen Einheitsfront und demokratischer Wahlen endgültig ihre Glaubwürdigkeit und treten hinter die revolutionäre Gewalt der Guerilla zurück. Nachdem der bewaffnete Kampf begonnen wurde, muss er auch aufrecht erhalten werden. Zudem muss die Unterstützung der Bevölkerung im Kampfgebiet gewonnen werden, um die dritte Phase erreichen zu können.
3. In der Phase des Wachstums tritt die Guerilla politisch zu Tage, ihr politisches Programm wird im ganzen Land bekannt gemacht. Die Reihen werden durch neue Rekruten aus der Bevölkerung verstärkt und die Volksarmee aufgebaut. Es beginnt der Stellungskrieg, in dem die Streitkräfte der Regierung zurückgedrängt werden, bis sie schließlich zwischen den bewaffneten Volksmassen aufgerieben werden.
Dieser kurze Überblick über die Taktiken des Guerillakampfes in Brasilien liefert zumindest einen Eindruck, unter welchen Prämissen dieser von Marighella geführt wurde.
http://radikalrl.wordpress.com/2010/...ein-uberblick/