Ideengeschichte des Kibbuz
Erziehung und Familie
Ein wichtiger Punkt in der Kibbuzbewegung war auch die Gleichheit zwischen den Geschlechtern. Durch die Kinderhäuser und die Erziehung der Kinder über Pädagogen anstatt durch die klassische kleinbürgerliche Familie konnten auch Frauen Berufe und Tätigkeiten innerhalb der Gemeinschaft übernehmen. In den 1960er Jahren, als das Thema der weiblichen Emanzipation in Europa und den USA immer mehr in den Fokus rückte, übte die Kibbuzbewegung als stilisiertes Gegenmodell zum westlichen Lebensstil, in dem Männer alleine die Familie erhielten und die Frauen für die Kindererziehung zuständig waren, eine große Anziehung auf viele Linke aus. Frauen waren gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft inklusive aller Rechte und Pflichten, und das als in den meisten Staaten Europas von Gleichberechtigung, ganz zu schweigen von Mitbestimmung, noch keine Spur zu finden war. Das Modell der Kleinfamilie war unter Kibbuzniks lange Zeit als allzu kleinbürgerlich verpönt. Der Kibbuz als revolutionäres Kontra zum Spießertum über die kommunale Lebensart zu Lasten der Familie konnte sich lange halten, ist mittlerweile aber nicht mehr die unumstrittene Norm.
Die Arbeitskraft der Frau war natürlich wichtig, ebenso die sozialistische Erzählung der Gleichberechtigung. Die Übernahme der Erziehung hatte wohl aber auch sehr profane Gründe. Die Kibbuzbewegung erkannte sehr früh, dass die Kindererziehung am Weg zum Neuen Menschen ein sehr wichtiger Baustein war. Über die Jugendorganisation Gordonia wurden junge Menschen mit den Grundsätzen des Lebens als Kibbuznik früh bekanntgemacht.
Die jüdischen Pioniere werden aber auch außerhalb der Kibbuzim in der israelischen Erziehung noch immer glorifiziert. Ben Gurion und seine sozialistische Mapai legten den Grundstein dafür, dass die jüdische Landnahme Palästinas seit 1882 in der offiziellen Historiographie ins richtige Licht gerückt wird. Über die Jugendorganisation Haschomer Hatzair der Arbeiterpartei wurden sowohl in Israel wie auch in der Diaspora junge Menschen mit der Verbindung von Sozialismus und Zionismus bekanntgemacht. Das erklärte Ziel dieser Jugendbewegung war es, neue Mitglieder für das Leben im Kibbuz anzuwerben.
Dieser Gedanke war nicht neu. Ahad Haam erkannte ebenfalls schon sehr früh, wie wichtig Bildung im Sinne einer Gemeinschaft ist, um diese Gemeinschaft überhaupt bilden zu können. Für ihn war es wichtig, die Verbindung zwischen den Diasporajuden und den Juden Palästinas zu erhalten. Landnahme allein war für ihn zu wenig. Für Ahad Haam ist die nationale Kultur auch eine Frage der Erziehung und Bildung. Die nationale Agenda muss dem Individuum vor Augen geführt werden von jungen Jahren an, damit es sich als Erwachsener für die Sache einsetzen kann. Das Leben als jüdische Nation in der Diaspora kann also nur funktionieren, wenn die Erziehung und Ausbildung auch jüdisch geprägt sind.
Dieses System, ähnlich einer Meistererzählung, nutzten Kibbuzniks und der Staat Israel gleichermaßen erfolgreich. Dabei war Ahad Haam keineswegs ein Anhänger der sozialistischen Idee unter der sich die Ankömmlinge des Land aneigneten. Das pragmatische Vorgehen der Siedler gemäß dem politischen Zionismus seines Gegners Theodor Herzl war ihm ebenso wie die Ablehnung des traditionellen Judentums ein Grauen. Am Ende waren es aber genau diese sozialistischen Siedler, die für die Besiedlung von Eretz Israel verantwortlich waren.
Kapitalismus
Während Sozialisten in vielen Gesellschaften Europas der Klassenkampf als wichtigstes Merkmal den Klassenkampf auf ihre Fahnen hefteten und den Kapitalismus und die Gesellschaftsordnung die er hervorbrachte vernichten wollten, arrangierten sich die beiden Geistesströmungen in Palästina. Für Kritiker sind die Kibbuzim mit der Entwicklung hin zu Lohnarbeit und Industrie ohne sich in das normale Entlohnungsschema anzupassen sehr wohl aber das Preisschema der kapitalistischen Makroökonomie anzuwenden gar die Vertreter eines „kollektiven Kapitalismus“.
Einer der ersten Käufer von Land im 19. Jahrhundert war der französische Jude
Baron Edmund de Rothschild, der das erworbene Land in Größe von 27.500 Hektar der
Jewish Colonizatan Agency JCA unter der Leitung von
Baron Maurice de Hirsch. Die
Jewish Colonization Agency war 1893 gegründet worden, 1898 folgte die
Jüdische Kolonial-Treuhand-Gesellschaft, 1901 wurde der
Jüdische Nationalfonds gegründet und 1902 folgte die
Anglo Palestine Bank.
Ziel war es, möglichst viele Juden nach Palästina zu bringen, was ohne die Unterstützung von Kapitalisten wie Rothschild wohl unmöglich gewesen wäre.
Der politische Zionismus Herzls hatte sich als Ziel auf Basis eines alten Gedankens von Yehuda Hai Alkalai durchgesetzt auf Kosten Ahad Haams, der vor der Besiedlung die Bildung einer nationalen Identität forderte. Klar deklariertes Ziel war es nun die Bildung eines Territorialstaats voranzutreiben. Alkalai, der im 19. Jahrhundert als Rabbi im Osmanischen Reich arbeitete, sah den Weg das Land zu besiedeln allerdings nur dann als möglich an, wenn es vor einer Masseneinwanderung bestellt und bearbeitet wird. Alkalai war einer der ersten Zionisten, die die Besiedlung, zwar vor einem religiösen Hintergrund, in einen praktischen Kontext stellten und vom rein orthodox-religiösen Gedankengut befreiten. Die Kibbuzim, die zwar die Ankunft des Messias nicht als finales Ziel deklarierten, waren in diese Sinn sehr hilfreich als eine Art Vorposten der vollständigen Besiedlung Palästinas.
Ein anderer sehr früher Denker, der die Notwendigkeit der Finanzierung der Rückkehr der Juden ins Heilige voraussah, war Rabbi Zwi Hirsch Kalischer, ein Vertreter des religiösen Zionismus. Dabei nahm er die reichen jüdischen Familien wie die Rothschilds oder die Montefiores in die Pflicht. Sie sollten es sein, die den jüdischen Siedlern den Start in Palästina durch landwirtschaftliche Ausbildung ermöglichen.
Ein Mix an unterschiedlichsten Ideologien mit demselben Ziel wurde schließlich in die Praxis umgesetzt. Unter Dr. Albert Ruppin sollte es ab 1907 soweit sein. Auf der Kinneret Farm wurden die zukünftigen Pioniere des Kibbuz Degania zu fähigen Landwirten erzogen. Der Gedanke des religiösen Rabbi Kalischer durch landwirtschiftliche Ausbildung die Kolonisation voranzutreiben wurde von sozialistischen, jüdischen Pionieren mit Unterstützung der vom Kapitalismus getragenen, zionistischen Institutionen in die Tat umgesetzt.
Auch die weitere Entwicklung war davon getragen, dass sich Kapitalismus und Sozialismus nicht unangenehm in die Quere kamen.
Als sich die Kibbuzim in den Jahren nach dem Sechstagekrieg von der Landwirtschaft in Richtung Industrie und anderer Gewerbe stärker öffneten war es nicht unüblich, dass Lohnarbeiter von außerhalb zur Unterstützung eingestellt wurden. Dabei spielte die Gleichheit keine Rolle, die Lohnarbeiter aus den besetzten arabischen Gebieten wurden für die Billigarbeiten herangezogen.
Die Akzeptanz des Kapitalismus trägt wohl auch zum relativ zu anderen Kommunen und Gesellschaften langen Bestehen der Kibbuzidee bei. Anders als in sozialistischen Staaten in Osteuropa gab es Zwang und Klassenkampf nicht. Die Kibbuzim fühlten sich als
sozialistische Player in einer
kapitalistischen Makroökonomie ebenso wohl wie die Kibbuzniks, die außerhalb der Gemeinschaften einer Lohnarbeit nachgehen konnten wenn dies ihr Wunsch war. Unter den ideologischen Hardlinern mag dies verpönt sein, die breite Masse findet so aber bis heute ein
Gleichgewicht zwischen dem Leben innerhalb einer offenen, westlichen Gesellschaft die Israel ist und dem
Sozialismus für den die Kibbuzim stehen.
Nationalismus, Imperialismus und Kolonialismus
Während die Pioniere in den Kibbuzim für viele Linke sozialistische Helden der Arbeit waren und in Israel bis heute als Sinnbild des Neuen Menschen gesehen werden, stellen die Siedlungen für Israelkritiker ein Werkzeug des Imperialismus und Kolonialismus dar. Die Siedlungen, die oftmals mit Verteidigungsanlagen versehen waren, sollten in erster Linie der Verteidigung dienen, galten ihren Nachbarn aber auch als Ausdruck einer aggressiven Expansionspolitik. Kibbuzim waren von Anfang an mehr als Landarbeiter und Bauern. Der Schomer, der bewaffnete Bewacher, war zumindest bis zum Unabhängigkeitskrieg, als es noch keine reguläre israelische Armee gab, ebenso wichtig wie der Agrarier.
Die Kibbuzniks waren nicht unbedingt gern gesehene Gäste in Palästina und mussten sich gegen feindselige Araber und Beduinen erwehren. Mit dem Muskeljudentum Nordaus hielten auch Kampfausbildung und Militarismus im Alltag vieler Juden Einzug.
Vor allem Israelkritiker sehen in den Kibbuzim die Vorposten des Kolonialismus. Die enge Verknüpfung von
Palästinenseramt, Jewish Colonization Agency und den
Kibbuzim lässt Vermutungen zu, dass die Besiedlung durch die Kibbuzniks eine Art
Ersatz für militärisch vorangetriebenen
Kolonialismus klassischen Stils bildet. Die Kibbuzim dienten dabei als eine Art
militärische Stützpunkte und
Kontrollstellungen sowie als
Mittel zur
Vertreibung der
arabischen Bevölkerung Palästinas.
Auch am berühmt-berüchtigten Massaker von Deir Jassim, bei dem im April 1948 eine bis heute offenbar strittige Anzahl an palästinensischen Zivilisten von israelischen Kämpfern ermordet wurden und das bis heute als eines der umstrittensten Kapitel der Staatswerdung Israels gilt, wurde von einer
Einheit eines
Kibbuz durchgeführt. Ebenfalls hoch war der Einfluss der Kibbuzniks auf viele umstrittene Regierungsentscheidungen in der Araberfrage vor allem in den ersten
20 Jahren des Staates Israel.
Zionisten sahen die Landnahme von Anfang an als essentiell an. Zwi Hirsch Kalischer sah nicht nur das Thema der Ausbildung, sondern auch den jüdischen Nationalismus voraus. Unter dem Eindruck des zunehmenden Nationalismus in Europa wollte er diesen Weg auch für die Juden der Diaspora eingeschlagen sehen. Das jüdische Volk sollte sich ein Beispiel an den Ungarn, den Italienern oder den Polen nehmen, die nicht davor zurückscheuten ihr Leben für die Nationwerdung zu geben.
Darüber hinaus sieht auch Hirsch voraus, dass ein Auftreten der Juden als Pioniere unumgänglich sein wird. Kalischer sagt hier die zukünftige Möglichkeit der Kibbuzim als selbstständige, landwirtschaftliche Siedlungen erstaunlich genau voraus. Er sieht die Erlösung, die nur durch die Bevölkerung Palästinas, des Heiligen Landes, zwar in einem klassisch-religiösen Sinn durch die Ankunft des Messias am Jüngsten Tag, von hier an zum Nationalismus war es aber nur ein kleiner Schritt in der Denkweise.
Auch Moses Hess war ein Anhänger der Idee des jüdischen Nationalismus auf dem Grund und Boden Palästinas. In seinem Glauben an die Wiederherstellung des Jüdischen Staates beruft sich auch der Sozialist Moses Hess wie Rabbi Kalischer auf den Propheten Isaiah. Er glaubt sehr stark an die Franzosen in der Unterstützung für den Staat Israel im Nahen Osten und auch daran, dass es keinen Widerstand aus Europa geben kann wenn sich Juden Land aus der Hand des bröckelnden osmanischen Reiches herauskaufen und sich als Bindeglied zwischen West und Fernost etablieren.
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