NZZ / 27.11.2023
Der Schriftsteller und Journalist Theodor Herzl hat den Zionismus erfunden
Er war jedoch mehr Phantast als Politiker
Herzl stellte sich die
Gründung Israels als eine
Art Volksfest vor, bei dem sich die
Juden und die
arabisch-muslimische Welt in die Arme fallen. Die Idee war schon damals
weit von der Wirklichkeit
entfernt.
Kann man aus den Utopien von gestern etwas lernen, ausser dass sie sich meist nicht erfüllen? Kurz vor Theodor Herzls Tod erscheint im Jahr
1902 sein Roman
«Altneuland». Darin ist das
Palästina des Jahres
1923 zu einer
blühenden Landschaft geworden. Es hat sich zu einem
Gemeinwesen der
Toleranz und der
wirtschaftlichen Prosperität entwickelt.
Weder Juden noch Muslime oder Christen haben Privilegien. Man lebt miteinander und füreinander. Auf die Idee eines Nationalstaats verzichtet man genauso wie auf den klassischen Typus des Politikers. In hohe Ämter kommt nur, wer seine Fähigkeiten bewiesen hat.
Ein Roman ist ein Roman, aber nachdem seit Herzls ominösem Datum 1923 exakt hundert Jahre vergangen sind, ist von der
grossen Idee einer
säkularen, den Interessen
aller dienenden Gemeinschaft im
Nahen Osten nicht viel geblieben.
Im
Mai 1948 hat
David Ben Gurion die
Gründungsurkunde des
Staates Israel unter einem Bild Theodor Herzls unterzeichnet. Dem
zionistischen Utopisten, der die
Juden vor dem
Antisemitismus retten wollte und Jahrzehnte seiner Lebenszeit für die Errichtung eines eigenen Staates kämpfte, war damit
symbolisch ein
Denkmal gesetzt.
Heute leuchtet der Name Theodor Herzl noch immer aus den
Gründungsmythen Israels. Die
politischen Hardliner, die aus
Herzls Ideen vom
Zionismus eine
kolonialistische Waffe machen wollen,
bedienen sich seiner Schriften. Mit dem
Phantasten allerdings, der so kühn war, die Gründung Israels als eine Art Volksfest zu imaginieren, bei dem sich die Juden und die arabisch-muslimische Welt in die Arme fallen, ist heute
kein Staat mehr zu machen.
Die aristokratische Republik
Der 1860 geborene österreichisch-ungarische Feuilletonist Theodor Herzl ist ein
paradoxes Phänomen. Fast aus dem Nichts hat er sich auf der politischen Weltbühne im Namen des Zionismus selbst einen Namen gemacht. Auf seinen
diplomatischen Ochsentouren wurde er vom
deutschen Kaiser Wilhelm II. empfangen, vom
Sultan des Osmanischen Reichs und vom
englischen Kolonialminister Joseph Chamberlain.
Das Seltsame allerdings: Eher hat die Summe seiner Irrtümer dazu geführt, dass seine Sache am Ende doch noch recht bekam. Weil Herzl so zerrissen war, hat er das grosse Ganze als Auftrag empfunden. Seiner Meinung nach zum Wohle der Welt und sicher auch für sein eigenes Seelenheil.
In Phasen grosser innerer Anspannung hat er 1896
«Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage» geschrieben. Das schmale Werk, das auch unter dem Eindruck der französischen Dreyfus-Affäre entstanden ist, setzt sich mit dem Antisemitismus auseinander und entwirft als politischen Ausweg die Beendigung der Diaspora in einem Staat, wie es ihn noch nicht gegeben hat. Einer Art
aristokratischer Republik, für die
der Ort erst noch
gefunden werden muss.
«Altneuland» erscheint als Roman sechs Jahre später und wieder am Ende einer psychischen und politischen Klimax.
«Der Judenstaat» ist ein nüchternes Manifest, das zur
Basis der folgenden
Zionistenkongresse wird. «Altneuland» dagegen kommt als politische Träumerei daher, die die diplomatischen Fehlschläge, die Herzl bei seiner Mission in Sachen Israel erlitten hat, mit ungebrochener Menschenfreundlichkeit wegsteckt.
Empfänglich für alles Visionäre
Im ungarischen Pest geboren und 1878 mit seiner wenig religiös lebenden Familie nach Wien übersiedelt, glaubt Theodor Herzl an die
Assimilation des
Judentums als
starke Kraft gegen den
Antisemitismus. Mit dieser Ansicht steht Herzl nicht allein da, sondern teilt sie mit jenen
assimilierten europäischen Juden, die wiederum an seinen
zionistischen Ideen eines stört:
Warum einen eigenen Staat, wenn man doch gerade dabei ist, sich im Säkularen einzurichten und dafür auch die Idee eines jüdischen Volkes zu suspendieren?
Den orthodoxen Juden wiederum, die Theodor Herzl zu gewinnen versuchte, war gerade das Fehlen des Religiösen beim Zionismus ein Dorn im Auge. Geradezu blasphemisch mutete die Strenggläubigen die Idee an, nicht der Messias selbst werde die Juden aus der Diaspora ins Gelobte Land führen, sondern ein Feuilletonjournalist aus Wien. Das linke Judentum wiederum glaubte an ganz andere Ideen geschichtlicher Gerechtigkeit.
Im Grunde sind die
Geburtsfehler des Herzlschen Zionismus als
Fliehkräfte bis heute wirksam. Ein Visionär muss kein Realpolitiker sein. Dass sich bei der Wiener Tageszeitung
«Neue Freie Presse» die Möglichkeit ergab, als Mischung aus beidem zu arbeiten, nämlich als
Journalist, ist Teil des
Phänomens. In seiner Zeit als Korrespondent in Paris während der 1890er Jahre wird Theodor Herzl von Wien aus ermahnt, die tumulthaften Zeiten der französischen Politik zwischen republikanischem Aufbruch und reaktionären Geistern doch etwas beherzter zu schildern.
Herzl agiert immer etwas
neben der Unmittelbarkeit des Politischen. Vielleicht ist es das, was ihn immun macht gegen die wahren Zudringlichkeiten der Zeit, aber umso empfänglicher für das Visionäre. Am
offenen Antisemitismus, der ihm bei
Kaiser Wilhelm und seiner
diplomatischen Entourage ebenso begegnet wie bei
Joseph Chamberlain, schaut Herzl geflissentlich vorbei. Viele seiner Ideen sind
wahr, weil er die
echten Wahrheiten nicht kennt.
Über das
Wilhelminische Deutschland, dessen
Beistand er
sucht, notiert Herzl in seinem Tagebuch, dass es
«nur die heilsamsten Wirkungen für den jüdischen Volkscharakter haben» kann, sich dieses
«starken, grossen, sittlichen, prachtvoll verwalteten, stramm organisierten» Landes zu
versichern.
Was den Fortgang der Geschichte betrifft, glaubt der Journalist, dass sich die schon jetzt erreichte Emanzipation der Juden nicht wieder rückgängig machen lassen werde:
«Man kann also wenig Wirksames gegen uns thun, wenn man sich selbst nicht weh thun will»,
schreibt Herzl etwas mehr als
vierzig Jahre vor dem
Holocaust.
Epische Irrtümer und
kulturelle Klischees begleiten das Wollen des plötzlich zum Politiker avancierten Journalisten. Gerade seine Fehler seien es gewesen, die ihm Glaubwürdigkeit verliehen hätten, schreibt Theodor Herzl einmal. Und für die Tatsache, dass das Einfache immer über das Komplexe siegt, hat er eine Erklärung, die den heutigen Populismus gleich mit erklärt:
«Die Massen denken niemals in Ideen und immer in Personen.»
Der Wiener in Jerusalem
Theodor Herzl war charismatisch und populär. In seinen besten Zeiten wurde der gross gewachsene bärtige Mann mit
Moses und
Kolumbus verglichen. Er
organisierte einen
Zionistenkongress nach dem anderen, dachte über
Vorschläge nach, den
Staat der
Juden in
Argentinien oder
Uganda zu etablieren.
Palästina als
alte Heimat blieb das
Wunschziel, obwohl
Herzls Bild von diesem Landstrich mehr als
unscharf war.
Bei seiner ersten Ankunft wundert er sich über das dort reichlich vorhandene jüdische Leben und schaut mit dem Blick seines späteren Romans über die Hügel von Jerusalem: Hier ist vieles möglich und noch viel mehr erst zu machen. Der Mann aus Wien, der die Armut der Menschen in London und Paris kennt, sieht sich als Sozialreformer. Der Staat, den er sich vorstellt, soll das Beste aller Welten bringen. Eine starke Wirtschaft bei vergemeinschaftetem Eigentum.
In
«Altneuland» ist alles
genossenschaftlich organisiert, durch einen
Innovationsschub entsteht ein
Staat wie ein
transformiertes Europa. Ganz ohne Antisemitismus. In den
Kaffeehäusern spricht man
Französisch, Deutsch, Hebräisch und
Jiddisch.
Für den
Feuilletonjournalisten Theodor Herzl gab es einen
fiebrigen kulturellen Traum, der schwer mit dem jetzigen politischen Wachzustand des Nahen Ostens in Verbindung zu bringen ist. Seine
naiven Visionen am Übergang zum 20. Jahrhundert gingen
weit über die
Idee politischer Landkarten hinaus. Sein neues altes Land sollte in der
«Cultur ein Wunderland» sein, das man besucht wie
Lourdes, Mekka oder das
chassidisch-bukowinische Sadigura.
«Neu Judäa soll nur durch den Geist herrschen», hat Theodor Herzl geschrieben und sich eine
entmilitarisierte Zone gewünscht, in der alle Menschen in Frieden leben.
Seinen
eigenen Frieden hat er nach der
Niederschrift seines Romans
«Altneuland» nur vorübergehend gefunden. Die Vitalfunktionen seines Engagements für den neu zu gründenden Staat hatten die Möglichkeiten seines Körpers immer überstiegen. Er musste in den letzten Jahren mit
angegriffenem Herzen und oft in
depressiver Stimmung leben.
Vor seinem Tod im Sommer 1904 hat Theodor Herzl der Welt noch einen entscheidenden Satz hinterlassen:
«Machet keine Dummheiten, während ich todt bin!»
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