Deutschlandfunk / 25.10.2023
- Teil A -
Krieg in Nahost
Wie der Gazastreifen zum Pulverfass wurde
Bereits zum
fünften Mal binnen der vergangenen
20 Jahre steht der Gazastreifen im Zentrum eines blutigen Krieges. Wie und warum wurde dieser Landstrich zum Dauerkonfliktherd? Ein Überblick.
Vom Gazastreifen drangen am 7. Oktober 2023 Terroristen der militant-islamistischen Hamas nach Israel ein und töteten mehr als 1.300 Menschen, vorwiegend Zivilisten. Es war die bislang blutigste Terrorattacke auf israelischem Boden. Noch am gleichen Tag begann Israel mit Luftangriffen auf den Gazastreifen. Wieder einmal ist der Landstrich zum Ausgangspunkt für einen Krieg geworden. Der zugrundeliegende Konflikt und seine Ursachen reichen jedoch weit über den Gazastreifen hinaus.
Wo liegt der Gazastreifen und wer lebt dort?
Der Gazastreifen ist ein schmales Küstenband am südöstlichen Ende des Mittelmeers. Landseitig wird das nur knapp 45 Kilometer lange und zwischen sechs und 14 Kilometer breite Gebiet auf allen Seiten von einem mehrere Meter hohen Sicherheitszaun begrenzt; im Norden und Osten zu Israel, im Süden zu Ägypten. Die fast 2,2 Millionen Einwohner leben auf einer Fläche von knapp 360 Quadratkilometern. Der Gazastreifen ist damit kleiner als das Bundesland Bremen (420 Quadratkilometer), in dem etwas mehr als eine halbe Million Menschen leben.
Fast
Dreiviertel der Einwohner des Gazastreifens sind
Flüchtlinge, die ursprünglich auf dem heutigen Staatsgebiet Israels oder im Westjordanland lebten. Mehr als die Hälfte von ihnen wohnt in acht Lagern, die vom Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) betreut werden. Rund 99 Prozent der Einwohner sind sunnitische Muslime, weniger als ein Prozent Christen. Juden leben seit 2005 nicht mehr im Gazastreifen.
Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum der Region ist das im Norden des Küstengebiets gelegene Gaza, mit rund 600.000 Einwohnern auch die größte Stadt. Weitere städtischen Zentren sind im Süden Khan Yunis (220.000 Einwohner) und die Grenzstadt Rafah (200.000). Hier befindet sich auch der einzige offizielle Grenzübergang von und nach Ägypten, die beiden anderen Übergänge werden von Israel kontrolliert. Eine Einreise auf dem Seeweg ist nicht möglich.
Wie ist die Situation der Menschen im Gazastreifen?
Schon vor dem 7.10.2023 war die humanitäre Lage im Gaza-Streifen nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes der deutschen Bundesregierung „prekär“. Fast die Hälfte der Einwohner war auf humanitäre Nahrungsnothilfe angewiesen. Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) hat quartalsweise Grundnahrungsmittel wie Mehl, Linsen, Kichererbsen und Öl ausgeteilt. Die Menschen leiden im Gazastreifen auch unter stark eingeschränktem Zugang zu sauberem Trinkwasser und Energie, unzureichender Gesundheitsversorgung, einem schlechten Bildungssystem und einer maroden Infrastruktur. Verantwortlich für diese Situation sind neben der seit Jahren anhaltenden Blockade durch Israel und Ägypten vor allem auch die seit 2007 bestehenden politischen Machtverhältnisse im Gazastreifen.
Wirtschaftliche Perspektivlosigkeit für die Bevölkerung
Nach mehreren Kriegen mit Israel in den vergangenen 20 Jahren sind große Teile des Gazastreifens
zerstört. Ein Wiederaufbau war aufgrund des von Sicherheitsinteressen geleiteten
rigiden Grenzregimes Israels nur eingeschränkt möglich. Ein- und Ausreise in den Gazastreifen sind strikt begrenzt, ebenso der Import von Strom, Treibstoff oder Baumaterial und der Export landwirtschaftlicher Güter. „Die palästinensische Wirtschaft befindet sich in einem desolaten Zustand“, urteilte der Internationale Währungsfonds Anfang September 2023.
Rund die Hälfte der Bevölkerung der Enklave muss mit weniger als 3,20 Dollar am Tag auskommen und lebt damit unter der Armutsgrenze. Viele sind daher auf Lebensmittelhilfen angewiesen, zumal es in dem abgeschotteten Küstenstreifen auch kaum Arbeit gibt: Mehr als 40 Prozent der männlichen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ist ohne Job, bei den Frauen sind es 65 Prozent. Die Arbeitslosigkeit in der jungen Bevölkerung beträgt sogar fast 75 Prozent. Angesichts der Tatsache, dass fast 40 Prozent der Bevölkerung jünger als 14 Jahre ist, dürfte sich die Situation in den kommenden Jahren weiter verschärfen.
Wie ist die politische Situation im Gazastreifen?
Politisch gehört der Gazastreifen zum Palästinensischen Autonomiegebiet und steht damit formell unter der Verwaltung der Palästinensischen Autonomiebehörde. Faktisch übernahm die Hamas, die von Israel, der Europäischen Union und den USA als Terrororganisation eingestuft wird, 2007 nach innerpalästinensischen Auseinandersetzungen die Regierungsgeschäfte im Gazastreifen. Vorrangiges Ziel der 1987 gegründeten Hamas ist die Zerstörung Israels und die Errichtung eines islamischen Staates Palästina an dessen Stelle.
Der Name Hamas ist ein arabisches Akronym und steht übersetzt für „Bewegung des islamischen Widerstandes“. Die Hamas ging nach Beginn der Ersten Intifada aus dem palästinensischen Zweig der fundamentalistischen Muslimbruderschaft hervor und stand von Anfang an in Opposition zur säkular ausgerichteten sozialistischen Fatah-Partei des langjährigen Palästinenser-Führers Jassir Arafat. Eine Rivalität, die bis heute weiterbesteht.
Neben ihrem militärischen Arm, den Kassam-Brigaden, besteht die Hamas aus einer politischen Partei und einem sozialen Hilfswerk. Finanzielle Hilfe bekommt sie unter anderem aus Katar und dem Iran. Das schiitische Regime in Teheran unterstützt die sunnitische Hamas auch militärisch. Seit ihrer Machtübernahme im Gazastreifen hat die Hamas von dort Israel immer wieder attackiert, vor allem mit Raketen, die in den grenznahen israelischen Orten häufiger Menschen töteten und verletzten. Vor dem jüngsten, bislang tödlichsten Angriff der Terroristen am 7. Oktober 2023 eskalierte der Konflikt bereits vier Mal zu Kriegen:
2008/2009, 2012, 2014 und
2021.
Die Folgen für die palästinensische Bevölkerung und die Infrastruktur im Gazastreifen waren jedes Mal verheerend, die Vereinten Nationen zählen über 4.000 Tote auf palästinensischer Seite; dabei ist der Anteil an zivilen Opfern jedoch umstritten.
Wie ist der Gazastreifen entstanden?
Das Gebiet um die Stadt Gaza ist seit rund
3.000 Jahren ohne Unterbrechung besiedelt und war immer wieder umkämpft. Über die Jahrhunderte herrschten hier unter anderem
Ägypter, Assyrer, Babylonier, Perser, Griechen, Römer und
Araber,
europäische Kreuzfahrer und schließlich ab dem frühen 16. Jahrhundert – mit einer kurzen Unterbrechung – die
Osmanen.
Im
Ersten Weltkrieg besetzte
Großbritannien die
Küstenregion sowie das gesamte Gebiet des heutigen
Israel und
Jordanien. Die Kontrolle über das sogenannte
Mandatsgebiet Palästina ließ sich London am
24. Juli 1922 durch den Völkerbund, die Vorläuferorganisation der Vereinten Nationen (UN),
international legitimieren.
In dem
Mandatstext wurde dem jüdischen Volk eine „nationale Heimstätte“ in dem Gebiet
in Aussicht gestellt, das seit Ende des 19. Jahrhunderts zum Ziel zionistisch gesinnter jüdischer Einwanderer aus Europa geworden war.
Ausgangspunkt war ein wachsender Antisemitismus in Europa, zum Teil einhergehend mit Verfolgung und Pogromen; es folgte die weitgehende Auslöschung des europäischen Judentums in der Shoah. In Folge mehrerer Einwanderungswellen wuchs der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Palästina bis 1945 auf 30 Prozent.
Ihr Ziel:
Im laut Bibel Gelobten Land des Volkes Israel einen eigenen Staat zu gründen. Gleiches strebten auch die dort bereits lebenden arabischsprachigen Palästinenser an.
...
https://www.deutschlandfunk.de/gazas...iebeh%C3%B6rde.