Frankfurter Rundschau / 18.10.2023 / von Andrea Jeska
Ausverkauf im Schatten des Ukraine-Krieges
In der
Ukraine eignen sich
Agrarkonzerne riesige Flächen an, kleine Landwirtschaftsbetriebe fürchten um ihre Existenz. In Yerkitvtsi, einem Ort zwei Stunden von der ukrainischen Hauptstadt Kiew entfernt, brennt die Sonne auf die Felder. Riesige Flächen mit Weizen ziehen sich bis zum Horizont, Walnussbäume begrenzen die schmalen Strassen, die Stille scheint friedlich. Die südliche und östliche Front im Krieg gegen das Land sind weit entfernt, es fallen keine Raketen oder Mörsergranaten, und doch hat der Angriffskrieg Russlands auch hier seine Folgen.
Abertausende Hektar Land haben 2022 und 2023 den Besitz gewechselt. Laut der Studie
„Krieg und Diebstahl“ des
kalifornischen Oakland Instituts, eines
Thinktank für
Nahrungssicherheit und
Landaneignungen, gehören bereits
drei Millionen Hektar fruchtbares Ackerland gerade mal
einem Dutzend großer
Agrarunternehmen. Oaklands Strategiedirektor Frédérick Mousseau nennt das eine
Übernahme der
ukrainischen Landwirtschaft durch
westliche Konzerne.
Ukraine-Krieg löst weltweite Ernährungskrise aus
„Da bahnt sich eine Katastrophe für die Kleinbauern an“, sagt auch Viktor Scheremeta. Der 60-Jährige ist Vorsitzender der ukrainischen Union der Kleinfarmer und sein Verband, sagt er, hat lange protestiert gegen das, was er als
„Ausverkauf mit fragwürdigen Methoden“ bezeichnet. Er würde wohl weiterhin protestieren, wenn das
Kriegsrecht Proteste
nicht verbieten würde - und Scheremeta es auch nicht für eine Sache des Anstands hielte, die eigenen Interessen dem Ziel des Siegs unterzuordnen.
„Wohlwissend“, sagt Scheremeta,
„dass nach dem Krieg vielleicht die halbe Ukraine Unternehmen gehört, die die Kleinbauern in den Ruin treiben werden.“
Der Krieg in der Ukraine dauert nun fast eineinhalb Jahre. Zerstörte Städte und Dörfer, vermintes Land, verbrannte Wälder, eine weltweite Ernährungskrise, steigende Energiepreise und eine der größten ökologischen Katastrophen der Gegenwart in Europa, ausgelöst durch die Sprengung des Kachowka-Staudamms, sind nur einige der bisherigen Folgen. Die Ukraine als die
Kornkammer Europas hat
33 Millionen Hektar Ackerland, das entspricht
einem Drittel der
Gesamtackerfläche der
Europäischen Union. 30 Prozent des Weltweizens werden auf diesen Böden angebaut.
Ausländische Konzerne nutzen westliche Ukraine-Hilfen
Bereits
vor dem aktuell laufenden Ukraine-Krieg war
ein Viertel davon in den
Händen internationaler Agrarkonzerne. Die korrupten Regierungen der Nachwendezeit sowie eine
überstürzte Privatisierung führten dazu, dass die
neue Oligarchie riesige Ackerflächen kaufen konnte, oft
weit unter eigentlich angemessenen Preisen.
Rund
4,3 Millionen Hektar gehörten
zu Beginn des Krieges – als
Besitz oder
geleast – großen
Agrarunternehmen,
fünf Millionen Hektar landwirtschaftliche
Staatsflächen, eine
Fläche so groß wie die Krim, waren durch Korruption vom Staatsbesitz in
privaten übergegangen. Die verbleibenden
23 Millionen Hektar werden von
acht Millionen ukrainischen Kleinbauern beackert.
2001 hatte es in der Ukraine ein Moratorium
gegen Landkäufe gegeben, dieses aber wurde
2020 auf Drängen der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Entwicklungsbank
wieder aufgehoben.
Der Oakland-Bericht beschreibt, in welchem Maß die westliche Hilfe an ein „Strukturanpassungsprogramm“ geknüpft wurde, das Sparmaßnahmen, Kürzungen der sozialen Sicherheitsnetze und die Privatisierung umfasst. Dazu gehört auch die Schaffung eines Bodenmarktes. Das
neue Landgesetz ermöglicht es
ausländischen Firmen, Land zu leasen, und ukrainischen Investoren, große Landflächen zu kaufen.
„Die Aufhebung des Moratoriums war die Bedingung dafür, dass die Ukraine Kredite erhält. Für die Kleinbauern war es eine Katastrophe,“ sagt Scheremeta.
Die größten Landbesitzenden sind heute eine Mischung aus Oligarchen und einer Vielzahl ausländischer Interessenten.
Mit einer Ausnahme sind die
zehn größten Investoren in ukrainisches Land
im Ausland registriert. Unter ihnen sind der
Konzern Monsanto, der
Chemiekonzern Dupont und das
Agrarunternehmen Cargill. Größter Investor ist der
US-Pensionsfond NCH mit
450 000 Hektar Pachtfläche. Doch auch die ukrainischen Großunternehmen werden nach Börsengängen von westlichen Banken und Investmentfonds kontrolliert. Die Oakland-Studie benennt unter den Akteuren etwa den US-amerikanischen Finanzdienstleister
Vanguard Group, Kopernik Global Investors, die zu
Goldman Sachs gehörende
NN Investment Partners Holdings und
Norges Bank Investment Management, das
Norwegens Staatsfonds verwaltet.
Während die großen Agrarkonzerne ihre Angelegenheiten aus sicherer Entfernung regeln, sind die meisten ukrainischen Kleinbauern an der Front, können den Hof nicht versorgen, die Felder nicht bestellen – und sind deshalb oft gezwungen, ihr Land zu
verpachten oder zu
verkaufen. Im Dezember 2022 forderten Landwirte, Wissenschaftler und Nichtregierungsorganisationen, das
Landreformgesetz von 2020 und alle
Markttransaktionen von
Land während der Kriegs- und Nachkriegszeit
auszusetzen.
Ukraine-Krieg erhöht Auslandsverschuldung des Landes
Die Nationale Akademie der Wissenschaften der Ukraine erklärte, dieser Schritt werde „die nationale Sicherheit und die Wahrung der territorialen Integrität des Landes in Kriegs- und Nachkriegszeiten gewährleisten. Heute kämpfen und sterben Bauern und Bäuerinnen im Krieg. Sie haben
alles verloren. Die Prozesse des freien Landverkaufs werden zunehmend liberalisiert und beworben. Dies
bedroht die
Rechte der
Ukrainer auf
ihr Land, für das sie ihr Leben geben“, hieß es.
Der Krieg hat die Auslandsverschuldung der Ukraine
vervielfacht, das Land ist heute der
drittgrößte Schuldner beim Internationalen Währungsfonds (IWF). Die Kosten für den Wiederaufbau nach dem Krieg werden zurzeit auf
750 Milliarden Dollar geschätzt. Vor dem Krieg erwirtschaftete die ukrainische Landwirtschaft
zehn Prozent des
Bruttoinlandsprodukts, sie machte
41 Prozent der
Exporte aus. 14 Prozent der Bevölkerung waren in der Landwirtschaft beschäftigt. Die durch den Krieg entstanden Schäden und Verluste für die ukrainischen Landwirte wurden im Februar 2023 bereits auf 40,2 Milliarden US-Dollar geschätzt.
Prekäre Situation für Bauern in der Ukraine
Doch je länger der Krieg dauert, Getreideschiffe blockiert werden und Gefechte das Einbringen der Ernte erschweren, desto prekärer wird die Situation der Kleinbauern. 400 000 Hektar Ackerfläche sind durch Blindgänger und Minen unbrauchbar geworden, mehr als 20 Prozent der Ackerflächen sind zudem verloren gegangen, weil sie in besetzten Gebieten liegen. Kurz vor der neuen Weizenernte hat Russland auch noch das Getreideabkommen aufgekündigt, es greift die Stadt Odessa an, aus deren Hafen die Getreideschiffe auslaufen. Russlands Präsident Wladimir Putin droht damit, Schiffe in Teilen des Schwarzen Meeres als Gegner zu behandeln, also womöglich anzugreifen. Zudem soll Russland in den Zufahrten zu Schwarzmeerhäfen weitere Minen verlegt haben.
Im Dezember 2022 haben die USA der Ukraine über 113 Milliarden US-Dollar zur Verfügung gestellt, darunter 65 Milliarden US-Dollar an Militärhilfe. Die vom Oakland Institut erhobenen Daten zeigen, dass, im Gegensatz zu riesigen
Agrarunternehmen, die
Kleinbauern bislang
wenig Unterstützung erhielten. Dabei bräuchten gerade sie Kredite, um zu investieren. Auch Scheremeta kämpft um das Überleben seines Hofes. In seiner Scheune liegen riesige Haufen von Sonnenblumenkernen, die auf Abtransport waren. Doch die Lieferketten sind unterbrochen, der Preis pro Tonne Sonnenblumenöl extrem eingebrochen. „Viele Farmer haben sich auf den Export spezialisiert, nun fällt uns das auf die Füße.“
Landübernahme in der Ukraine setzt sich während des Krieges fort
Währenddessen geht die
Landübernahme weiter. Der ukrainische
Agrarkonzern Kernel Holding mit offiziellem Sitz in
Luxemburg hat angekündigt, seinen Landbesitz von 506 000 Hektar auf 700 000 Hektar erhöhen zu wollen. Er ist der weltgrößte Erzeuger und Exporteur von Sonnenblumenöl sowie der größte ukrainische Erzeuger und Exporteur von Getreide. Auch
andere Unternehmen haben
neuen Landerwerb angekündigt. „
Wenn die Kleinbauern von der Front zurückkommen, und realisieren, dass sie gegen die Großkonzerne keine Chance mehr haben, dann wird der Protest nicht mehr friedlich sein, sondern radikal,“ prophezeit Scheremeta.
Das Oakland-Institut empfiehlt, das Ende des Krieges für eine Umgestaltung des Agrarsektors zu nutzen: ökologischer, nachhaltiger und nicht beherrscht von Korruption und Oligarchie. Unterstützt werden sollten vor allem die Landwirte, die das Land ernährten,
nicht exportorientierte Unternehmen. Doch die Leasingverträge der großen Agrarunternehmen gälten für
49 Jahre, sagt Scheremeta.
„Die werden wir nicht rückgängig machen können.“
https://www.fr.de/politik/ausverkauf...-92565094.html