InfoSperber / 23.12.2022 von Helmut Scheben
Ukraine: Chronik der westlichen Einmischung
Die Intervention des Westens im Umsturz von 2014 wird oft heruntergespielt. Sie passt nicht ins NATO-Narrativ von diesem Krieg.
Am 7. Februar 2014 wird auf Youtube ein Telefongespräch veröffentlicht, welches US-Staatsekretärin Victoria Nuland mit Geoffrey Pyatt führte, dem US-Botschafter in Kiew. Thema waren Pläne für einen Regierungswechsel in der Ukraine. Dieser war offensichtlich zu diesem Zeitpunkt beschlossene Sache. Nuland erörterte mit Pyatt bereits die Kandidaten für die neue Regierung. Pyatt meint, der ehemalige Boxer und spätere Politiker Vitali Klitschko wolle zwar Vize-Premier werden, sei aber offensichtlich nicht der richtige Mann. Nuland müsse ihm dies in einem Telefonat klarmachen. So wie sie bereits «Yats» (gemeint ist Arsenij Jazenjuk) telefonisch mitgeteilt habe, er sei der richtige Mann.
Wörtlich sagt Pyatt:
«Ich denke, es läuft. Die Klitschko-Sache ist offensichtlich das komplizierte Teilchen hier. Besonders die Ankündigung, er wolle stellvertretender Premierminister werden. Du hast einige meiner Notizen über die Probleme in dieser Beziehung gesehen, also versuchen wir, schnell herauszufinden, wo er in dieser Sache steht. Aber ich denke, Dein Argument, das Du ihm gegenüber vorbringen musst. Ich denke, das nächste Telefonat, das Du führen solltest, ist genau das, das Du Yats [Jazenjuk, Red.] gegenüber vorgebracht hast. Und ich bin froh, dass Du ihn sozusagen auf den Punkt gebracht hast, wo er in dieses Szenario passt.»
Original auf Englisch siehe Fussnote 1
Nuland bestätigt, Klitschko solle nicht in die Regierung, das sei keine gute Idee. Hingegen sei Jazenjuk geeignet für den Job des Regierungschefs:
«Ich denke, dass Yats derjenige ist, der über die wirtschaftliche Erfahrung und die Erfahrung im Regieren verfügt.»
Original auf Englisch siehe Fussnote 2
Jen Psaki, Sprecherin des US-Aussenministeriums, behauptete nach Bekanntwerden des Telefonats, die USA mischten sich nicht in die internen Angelegenheiten der Ukraine ein, Diplomaten redeten eben über dies und jenes: «Es sollte nicht überraschen, dass US-Beamte über Probleme in der ganzen Welt sprechen.» Auf die Frage, ob der Telefonmitschnitt authentisch sei, antwortete sie: «Ich habe nicht gesagt, dass dieser nicht authentisch ist.»
«Der Westen hat diesen Putsch gewollt»
Drei Wochen nach dem Bekanntwerden dieses Telefongesprächs wurde Jazenjuk der neue Ministerpräsident der Ukraine. Kurz vorher hatte der demokratisch gewählte Präsident Viktor Janukowitsch angesichts der Bedrohung durch einen Lynchmob das Land verlassen, nachdem bei gewaltsamen Protesten auf dem Kiewer Maidan um die hundert Menschen erschossen worden waren. Der damalige Premierminister Nikolai Asarow berichtete zwei Jahre später in einem Interview mit Telepolis ausführlich, was sich auf dem Maidan zugetragen hatte und zeigt sich überzeugt:
«Ohne Hilfe der USA hätte es 2014 keinen Staatsstreich gegeben».
Der damalige Präsident Janukowitsch sagte ein Jahr später:
«Der Westen hat diesen Putsch gewollt, nun muss er auch die Folgen tragen.» Er forderte die neue Regierung in Kiew auf, mit den
prorussischen Aufständischen im Osten der Ukraine das
Gespräch zu suchen und der abtrünnigen Region eine
weitgehende Selbstverwaltung zu gewähren. Gemäss dem völkerrechtlich verbindlichen Friedensabkommen Minsk II vom Februar 2015 hätte Kiew dieses Recht auf Selbstverwaltung in die Verfassung schreiben müssen, hat dies aber
nie getan.
Offensichtlich war es gar nie die Absicht von Deutschland und Frankreich, für das Umsetzen des Abkommens zu sorgen. Minsk II sollte vielmehr vor allem Moskau davon abhalten, den ganzen Donbass sofort gewaltsam einzunehmen, und gleichzeitig der Ukraine Zeit verschaffen, um aufzurüsten. Die damalige Kanzlerin Angela Merkel erklärte am 7. Dezember 2022 gegenüber der ZEIT offen:
«Das Minsker Abkommen 2014 war ein Versuch gewesen, der Ukraine Zeit zu geben. Sie hat diese Zeit hat auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht. Die Ukraine von 2014/15 ist nicht die Ukraine von heute. Wie man am Kampf um Debalzewe (Eisenbahnerstadt im Donbass, Oblast Donezk, d. Red.) Anfang 2015 gesehen hat, hätte Putin sie damals leicht überrennen können. Und ich bezweifle sehr, dass die Nato-Staaten damals so viel hätten tun können wie heute, um der Ukraine zu helfen.»
Aufarbeiten der Geschichte
...
Ursprung der Krise war, dass Janukowitsch – unter anderem wohl auf Druck von Moskau – das längst vereinbarte Assoziierungs-Abkommen mit der EU
nicht ratifizieren wollte. Er hatte sich damit
mächtige Feinde in Brüssel, Berlin und Washington gemacht. Das Abkommen beinhaltete die Bildung einer Freihandelszone und die Übernahme aller Handels- und Wirtschafts-Standards der EU. Vorgesehen war unter anderem, dass die Ukraine alle Zölle und Massnahmen zum Schutz der einheimischen Wirtschaft weitgehend eliminieren würde. Die Details waren in einer 1500 Seiten langen Liste für nahezu jedes Produkt festgelegt.
Wichtig war eine gemeinsamer Sicherheits- und Verteidigungspolitik, eine gemeinsame Terrorabwehr und eine militärischer Zusammenarbeit mit der EU, die der Vertrag vorsah. Russland befürchtete einen NATO-Beitritt und dass einer seiner wichtigsten Flotten-Stützpunkte, der Schwarzmeerhafen Sewastopol auf der Krim, NATO-Gebiet werden könnte. Der Versuch, die Ukraine in den westlichen Machtblock zu integrieren, musste zu einem schweren Konflikt mit Russland führen.
Ein gespaltenes Land
Russische und westliche Diplomaten und Russland-Experten hatten über Jahre hinweg immer wieder gewarnt, dass ein solcher Schritt das Land
zerreissen würde. Denn die Ukraine war aufgrund ihrer Historie gespalten in einen
prorussischen Osten und den
prowestlichen Teil der ehemaligen
Habsburger-Herrschaft.
Das Resultat der Präsidenten-Stichwahl im Jahr
2010 zeigt diese Spaltung. Im Osten und Südosten erzielte der eher Russland-freundliche Janukowitsch Mehrheiten – auf der Krim über
70 Prozent –, während die Herausforderin
Timoschenko in der
West- und Zentralukraine die
Mehrheit der Wählenden hinter sich hatte.
Präsidenten-Stichwahl im Jahr 2010. Der vorwiegend russischsprachige Osten und Südosten favorisierte Janukowitsch
https://politikforen-hpf.net/fotos/u...lkreisen-2.png
«Im Zuge der Unruhen und aufgrund seiner Flucht abgesetzt»
Das ukrainische Parlament erklärte Janukowitsch am 22. Februar 2014 «im Zuge der Unruhen in Kiew aufgrund seiner Flucht für abgesetzt.» In dieser sprachlichen Verpackung wird der Sachverhalt heute auf Wikipedia dargestellt. Wollte man die Formulierung «im Zuge der Unruhen» ausdeutschen, so müsste es heissen: Das Parlament beschloss die Absetzung im Eilverfahren unter dem Druck der Strasse, wo bewaffnete rechtsextreme Gruppen die Kontrolle übernommen hatten und unbotmässige Parlamentarier verprügelten und am Betreten der Werchowna Rada hinderten.
In westlichen Medien sah man alles im grünen Bereich. Der zweifelhafte
Regime Change wurde im Handumdrehen quasi als Normalbetrieb hingenommen. Das deutsche Nachrichtenmagazin
Der Spiegel bezeichnete Janukowitsch ohne viel Aufhebens als
«geschassten Präsidenten». Die führenden deutschen TV-Sender wählten einträchtig die kreative Formulierung, Janukowitsch sei
«vom Volk aus dem Amt gejagt worden.» Ein Sachverhalt, der in dieser Form wohl in keiner Verfassung eines demokratischen Rechtsstaates zu finden ist, aber das
Wording der
NATO und ihrer
Think Tanks wiedergibt.
Die
Russen fühlten sich über
den Tisch gezogen, hatte man sie doch kurz vorher noch um
Vermittlung gebeten. Präsident Putin sagte im
Jahr 2017 in einem längeren Interview mit dem amerikanischen Filmer Oliver Stone:
«Die drei Aussenminister der europäischen Länder fungierten als Bürgen für eine Vereinbarung zwischen der Opposition und Janukowitsch. Alle waren damit einverstanden, der Präsident stimmte sogar der Abhaltung vorgezogener Wahlen zu. Zu diesem Zeitpunkt sagte man uns auf Veranlassung der USA: Wir ersuchen Präsident Janukowitsch, auf den Einsatz der Streitkräfte zu verzichten. Dafür versprachen sie ihrerseits, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Opposition von öffentlichen Plätzen und Verwaltungsgebäuden fernzuhalten. Wir antworteten: In Ordnung, das ist ein guter Vorschlag, wir werden unser Bestes tun. Und wie Sie wissen, hat Präsident Janukowitsch nicht auf die Streitkräfte zurückgegriffen. Aber schon am nächsten Tag fand der Staatsstreich statt, mitten in der Nacht. Es gab kein Telefonat, man rief uns nicht an – wir mussten einfach zusehen, wie sie [die USA, Red.] die Verursacher des Staatsstreiches aktiv unterstützten (…) Wie können wir solchen Partnern trauen?»
(Oliver Stone, The Putin Interviews, 2017)
Die erste «orange Revolution»
Nach
eigenen Angaben haben die
USA während
Jahrzehnten mit
Milliarden Dollar in die
Innenpolitik der Ukraine eingegriffen. Sie unterstützten
2004 die erste
«orange Revolution», die Viktor Juschtschenko als Präsident und die Ölmagnatin
Julia Timoschenko als Regierungschefin an die Macht brachte. Offiziell fördert Washington dabei stets «die Zivilgesellschaft und die Demokratisierung».
Was ab
2005 folgte, war das Gegenteil: eine von Machtkämpfen und Intrigen zerrissene Oligarchenherrschaft, welche die
Ukraine nach Einschätzung von
Transparency International zum
korruptesten Land Europas machte.
Juschtschenkos Ehefrau war
US-Amerikanerin und hatte im
State Department und im
Finanzdepartment der USA gearbeitet.
Ian Traynor, Auslandkorrespondent des The Guardian, schrieb damals, Washington habe Juschtschenkos Wahlkampagne «finanziert und organisiert». Seine Recherche sollte zeigen, dass die politische Einflussnahme von Institutionen wie die
US-Entwicklungsagentur USAID und ihrer anverwandten NGOs von
ex-Jugoslawien über
Georgien bis zur
Ukraine stets nach einem
ähnlichen Schema erfolgte. Von dieser Entwicklung fühlte sich Russland
bedroht und stellte während
drei Jahrzehnten unmissverständlich klar, dass es NATO-Stützpunkte in der Ukraine
nicht hinnehmen werde.
...
FUSSNOTEN
1) «I think we’re in play. The Klitschko piece is obviously the complicated electron here. Especially the announcement of him as deputy prime minister and you’ve seen some of my notes on the troubles in the marriage right now so we’re trying to get a read really fast on where he is on this stuff. But I think your argument to him, which you’ll need to make. I think that’s the next phone call you want to set up, is exactly the one you made to Yats. And I’m glad you sort of put him on the spot on where he fits in this scenario.»
2) «I think Yats is the guy who’s got the economic experience, the governing experience.»
https://www.infosperber.ch/politik/w...n-einmischung/