vfa - Die forschenden Pharmanunternehmen / 26. Januar 2024
#MacroScopePharma 01/24
Der Economic Policy Brief des vfa
Hoher Krankenstand drückt Deutschland in die Rezession
Deutschland ist mit einem Minus von 0,3 Prozent bei der Wirtschaftsleistung im abgelaufenen Jahr Schlusslicht im Euroraum und auch global auf den hinteren Plätzen. Die Industrie tut sich schwer, die drastischen Kostensteigerungen und Änderungen des globalen Umfelds zu verarbeiten. Hinzu kommt ein Krankenstand auf Rekordniveau: Erhebliche Arbeitsausfälle führten zu beträchtlichen Produktionseinbußen – ohne die überdurchschnittlichen Krankentage wäre die deutsche Wirtschaft um knapp 0,5 Prozent gewachsen. Somit büßt Deutschland durch den hohen Krankenstand Einkommen in Höhe von 26 Milliarden Euro ein – auch für die Krankenversicherung und an Steuern gehen mehrere Milliarden verloren.
Schwächelnde Konjunktur – hoher Krankenstand
Deutschlands Konjunktur schwächelt im Vergleich zu den meisten anderen Industrienationen erheblich. Im Wesentlichen werden hierfür
drei Gründe genannt:
Erstens macht Deutschlands Exportorientierung die Wirtschaft besonders anfällig für globale Krisen.
Zweitens sind die Energiekosten mit dem Wegfall günstiger Lieferungen aus Russland überdurchschnittlich gestiegen – die sich wiederum wegen des vergleichsweise großen industriellen Sektors in Deutschland stärker auswirken.
Drittens hinterlässt die globale Flaute bei den Investitionen bei der auf Investitionsgüter spezialisierten Exportwirtschaft deutliche Spuren.(1)
Ein bislang wenig diskutierter, derzeit allerdings höchst relevanter Faktor ist der
Krankenstand (s. hierzu die Box "Datengrundlage" auf Seite 8).
Üblicherweise fallen die Ausschläge bei den Fehlstunden der Arbeitnehmer:innen gering aus. Krankmeldungen können beispielsweise durch die Mehrarbeit anderer Beschäftigter aufgefangen oder Tätigkeiten etwas verschoben werden, so dass sie sich normalerweise kaum auf die Wirtschaftsleistung auswirken. In Ausnahmefällen kommt es aber zu nennenswerten Beeinträchtigungen.(2)
...
Hoher Krankenstand führt zu deutlichem Arbeitsausfall
Nach aktuell vorliegenden Daten hat der Krankenstand im Jahr 2023 den Rekordwert des Jahres 2022 noch einmal übertroffen. Deutlich wird dies in Abbildung 3, die den Anteil krank gemeldeter Versicherungsnehmer in der GKV nach Monaten darstellt. Die graue Fläche deckt dabei 90 Prozent der bis zur Corona-Krise beobachteten Werte ab (mit anderen Worten: in 15 Jahren zwischen 2003 und 2019 lagen die Krankenstände innerhalb dieser Fläche). Das Jahr 2022 war somit durchweg ein Ausreißer. Im Jahr 2023 weicht der Krankenstand noch gravierender vom langjährigen Durchschnitt ab.
Die vermehrte Zahl der Krankmeldungen hat einen Zuwachs bei den nicht geleisteten Arbeitstagen zur Folge. Für das Jahr 2022 beträgt der in Arbeitstagen gerechnete Ausfall je Beschäftigte:m 3,8 Tage mehr als im Jahr zuvor (zusammengenommen beläuft sich dies auf 158 Millionen Arbeitstage) – pro Quartal annähernd ein Tag (Abbildung 4). Das sind gut anderthalb Prozent der (insgesamt etwa 220) zur Verfügung stehenden Arbeitstage eines Jahres. Auf die Arbeitsstunden gerechnet ist der Effekt etwas größer: Arbeitstage und -stunden hängen nämlich über die tägliche Arbeitszeit (derzeit gut fünf Stunden) zusammen, die zuletzt etwas gestiegen ist.
Wachstum des Bruttoinlandsprodukts massiv belastet
Die Folgen für die Wertschöpfung sind gravierend: Entfällt Arbeit (hier im Umfang von rund anderthalb Prozent der jährlichen Arbeitseinsatzes), wird weniger erwirtschaftet – im Extremfall gar in gleicher Höhe. Allerdings können Ausfälle begrenzt kompensiert werden – durch Mehrarbeit der übrigen Belegschaft oder vorübergehend mögliche Produktivitätssteigerungen. Schätzungen(6) geben darüber Aufschluss, wie hoch die Produktionseinbußen alles in allem ausfallen: Sie ergeben, dass die rund vier zusätzlichen Krankentage in den Jahren 2022 und 2023 das gesamtwirtschaftliche Wachstum um je 0,6 Prozentpunkte gesenkt hat. Auf Basis der Arbeitsstunden ergibt sich mit jeweils 0,8 Prozentpunkten ein etwas höherer Effekt. Beide Rechnungen entsprechen damit den Größenordnungen, die auch die Konjunkturforscher:innen des IfW Kiel für das Jahr 2022 ermittelt haben.(7)
In Euro und Cent ausgedrückt bedeutet dies:
Wäre der Krankenstand nicht erneut so hoch gewesen, wären im Jahr 2023 etwa 26 Milliarden Euro zusätzlich erwirtschaftet worden. Anstelle einer milden Rezession – das deutsche Bruttoinlandsprodukt ist im vergangenen Jahr um 0,3 Prozent geschrumpft – hätte es im Jahr 2023 einen Zuwachs von knapp einem halben Prozent gegeben.
Der Gesamtverlust aufgrund des hohen Krankenstands in den Jahren 2022 und 2023 beläuft sich auf real über 50 Milliarden Euro und damit auf 1,6 Prozent der Wirtschaftsleistung des Jahres 2023 (Abbildung 5).
Da Wellen von Atemwegserkrankungen nicht abrupt zum Jahreswechsel abebben, geben die Krankenstände im November und Dezember in der Regel Anhaltspunkte für die Niveaus, die bis hinein in das Frühjahr zu befürchten sind. Die enorm hohen Werte zum Jahresausklang 2023 deuten also auf empfindlich hohe Arbeitsausfälle auch im laufenden ersten Quartal 2024 hin. Das bedeutet: Der hohe Krankenstand belastet die wirtschaftliche Entwicklung bis auf Weiteres.
Industrie büßt zehn Milliarden Euro ein – pro Jahr
In der Industrie schlagen Arbeitsausfälle stärker zu Buche: Ein zusätzlicher Krankentag pro Quartal bremst die Industrieproduktion auf das gesamte Jahr gerechnet um zwei bis zweieinhalb Prozent – dies zeigen entsprechende Schätzungen.(8) Ein möglicher Grund für die deutlich stärkere Belastung ist, dass in der Industrie geringere Spielräume bestehen, Arbeitsausfälle durch kurzfristige Anpassungen in der Qualität ihrer Produkte aufzufangen. Beispielsweise können Personalengpässe in der Gastronomie mit etwas längeren Wartezeiten aufgefangen werden. Zu erwarten ist zudem, dass ein erhöhter Krankenstand durch vermehrte Überstunden aufgefangen wird. Allerdings lässt sich hier statistisch kein belastbarer Effekt nachweisen.
...
Daher ist zu erwarten, dass ein hoher Krankenstand – wenn er schon nicht regelmäßig durch Überstunden aufgefangen wird – auf die Produktion durchschlägt. Eine Untersuchung der monatlichen Industrieproduktion liefert Hinweise auf den zu erwartenden dämpfenden Effekt. Wird – wie zuvor beim Bruttoinlandsprodukt – um die konjunkturelle Lage bereinigt, wirkt sich der Krankenstand dämpfend auf die Produktionsleistung aus. Das gilt überwiegend auch für die Branchen im Einzelnen (Abbildung 7).(9)
Mithilfe des Krankenstandes kann näherungsweise auf den gesamten Arbeitsausfall in einer Branche geschlossen werden. Dabei wird der hohe Krankenstand in den Jahren 2022 und 2023 mit dem langjährigen Mittel verglichen. In allen Branchen lag er in beiden Jahren deutlich über den durchschnittlichen Werten der Vorjahre. Der Krankenstand wird auf die Ausfalltage je Mitarbeiter:in umgelegt und schließlich mit der täglichen Arbeitszeit in Ausfallstunden ausgedrückt (Abbildung 8). Vom langjährigen Mittel (dieses ist in der Abbildung für die Gesamtwirtschaft beziehungsweise einen ausgewählten Industriezweig – hier die Glasindustrie – durch die beiden langen Horizontalen zwischen 2016 und 2021 dargestellt) weichen die Ausfallstunden sowohl 2022 als auch 2023 deutlich – und in vergleichbarem Ausmaß – ab.
Die Ergebnisse unterstellen den vollständigen Ausfall der krankheitsbedingten Fehlstunden im Produktionsprozess.
Angesichts der teils nur spärlichen Datenlage zu den einzelnen Wirtschaftszweigen können keine Abschätzungen vorgenommen werden, in welchem Umfang der Ausfall anderweitig – beispielsweise durch Überstunden – kompensiert werden konnte. Der berechnete Produktionsausfall stellt also eine Obergrenze dar. Es spricht allerdings einiges dafür, dass der tatsächliche Verlust in der Industrie überdurchschnittlich ausfällt, da industrielle Arbeitsprozesse weniger flexibel sind als in den Dienstleistungsbereichen.
Insgesamt zeigt sich, dass der erhöhte Krankenstand in der Industrie zu Einbußen von bis zu zehn Milliarden Euro der Bruttowertschöpfung geführt haben könnte (Abbildung 9). Dies entspricht einem bis anderthalb Prozent der gesamten Wertschöpfung des industriellen Sektors. Dabei tragen die einzelnen Branchen unterschiedlich zum Verlust bei. Rund70 Prozent des Produktionsausfalls fallen aufgrund der Größe der jeweiligen Branchen in den wichtigsten Wirtschaftszweigen Fahrzeugbau, Maschinenbau, Metall, Elektro, Pharma und Chemie an. Das gilt beispielsweise für den Fahrzeugbau: Dessen Krankenstand lag in beiden Jahren im Mittelfeld. Da der Wertschöpfungsanteil der Branche besonders hoch ist, machen sich die Ausfälle stärker bemerkbar. Wertschöpfungsausfall fällt mit 0,3 Milliarden Euro weniger ins Gewicht (in der Abbildung kommt zum dargestellten Balken „Metall“ noch der wesentlich größere Bereich der Metallerzeugnisse hinzu). Die Kfz-Industrie büßte krankheitsbedingt gut viermal so viel ein, ist allerdings auch mehr als sechsmal so groß. Dass diese Verhältnisse auseinanderklaffen, liegt an dem enorm hohen Krankenstand bei der Metallverarbeitung (7,8 beziehungsweise 7,6 Prozent in den vergangenen zwei Jahren; zum Vergleich: im Mittel lag der Krankenstand bei 6,0 und 5,8 Prozent.) Der über die Jahre 2022 und 2023 kumulierte Wertschöpfungsverlust in der gesamten Industrie beläuft sich auf knapp 20 Milliarden Euro.
Fazit: Gesamtwirtschaftlicher Schaden erheblich – Handlungsbedarf groß
Die wirtschaftlichen Folgen des hohen Krankenstands sind beträchtlich und führen zu einem erheblichen Wertschöpfungsverlust. Das Wachstum in den Jahren 2022 und 2023 fiel um etwa 0,8 Prozentpunkte geringer aus, das Bruttoinlandsprodukt in beiden Jahren zusammengenommen um real gut 50 (nominal rund
65) Milliarden Euro.
Dies hat reale Konsequenzen für den Wohlstand des Landes.
...
https://www.vfa.de/de/wirtschaft-pol...-die-rezession