Neutralität am Ende? 500 Jahre Neutralität der Schweiz (PDF)
(Auszug)
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Neutralitätsverzicht nicht opportun
Im Ausland erfährt die schweizerische Neutralität heute wenig Anerkennung, und zum Teil stösst sie auf Unverständnis. Das schwindende Ansehen der schweizerischen Neutralität im Ausland steht in scharfem Kontrast zur wachsenden Hochschätzung im Inland. Von 1993-2006 sprachen sich 79-90% der Schweizer Bevölkerung für die Beibehaltung der Neutralität aus, und 67-81% hegten die Meinung, die Neutralität sei untrennbar mit dem schweizerischen Staatsgedanken verbunden.
Die
Zustimmung zur
Neutralität übertrifft selbst jene zur
direkten Demokratie. Die jüngste Steigerung der Zustimmungsraten hat offensichtlich mit dem Irak-Krieg zu tun. Ein Jahr nach dem UN-Beitritt wurde die Schweiz von einer Situation überrascht, die sie veranlasste, gegenüber diesem
völkerrechtswidrigen Krieg das
herkömmliche Neutralitätsrecht anzuwenden. Es ist nicht auszuschliessen, dass der von der UN-Charta geächtete Präventivkrieg Schule macht, zumal ihn die
USA in ihrem
sicherheitspolitischen Konzept vom September
2002 offen
propagieren.
Sollte sich diese Neuauflage des angeblich “gerechten Krieges” durchsetzen und auch von anderen Staaten
übernommen werden, erhielte die Neutralität
neuen Auftrieb. Insofern bleibt die Neutralität eine
wichtige Reserveposition.
Der Verzicht auf die Neutralität ist unter den heutigen Gegebenheiten nicht praktikabel. Die einzige reale Option, die den Neutralitätsverzicht zur Folge hätte, wäre der NATO-Beitritt. Dazu besteht
kein Anlass. Weder der Bundesrat noch das Parlament noch irgendeine Partei strebt den NATO-Beitritt an. Er hätte bei Volk und Ständen im obligatorischen Referendum ohnehin
keine Chance. In jüngster Zeit liefern sich Bundesrätin Micheline Calmy-Rey und Bundesrat Christoph Blocher öffentlich Neutralitätskontroversen. “Aktive Neutralität” steht gegen “umfassende Neutralität”. Unter
“aktiver Neutralität” versteht die Aussenministerin intensive internationale Zusammenarbeit auf der Grundlage des Völkerrechts und der aussenpolitischen Ziele der Bundesverfassung (Art. 54). Der Justizminister plädiert im Rahmen seiner “umfassenden Neutralität” für den
aussenpolitischen Alleingang, hält wenig vom Völkerrecht und ignoriert den aussenpolitischen Verfassungsauftrag.
Beide Auffassungen sind
Übertreibungen. Beide stehen im
Widerspruch zu den Berichten des Bundesrates von 1993-2005 über die schweizerische Aussenpolitik und die Neutralität. Im Grunde handelt es sich nicht um verschiedene Neutralitätskonzepte, sondern um
kontroverse Konzeptionen der schweizerischen Aussenpolitik im Allgemeinen.
Der Zustand der Welt bietet einen unermesslichen Überfluss an Möglichkeiten, durch sinnvolle Dienstleistungen den
Tatbeweis internationaler Solidarität zu erbringen und so das selten notwendige neutralitätsbedingte Abseitsstehen mehr als
auszugleichen. Hohe Priorität kommt dabei dem Einsatz für das humanitäre Völkerrecht zu. In diesem Rahmen hat die Schweiz als Initiantin und Sachwalterin der Genfer Konventionen eine
besondere Verantwortung.
Aber man hüte sich davor, die
Neutralität zur umfassenden
aussenpolitischen Doktrin der Schweiz aufzuplustern.
Zusammenfassung
Der Autor gliedert die Geschichte der schweizerischen Neutralität in fünf Perioden: Allmähliche Gestaltnahme (15. Jahrhundert bis 1798), Verfestigung (1815-1914), Bewährung mit Vorbehalten (1914-1945), Übertreibung (1945-1989), Verunsicherung (nach 1989). Im Rahmen dieser fünf Perioden untersucht er die Bedeutung von fünf Neutralitätsfunktionen:
Integration, Unabhängigkeit, Freihandel, Gleichgewicht und Dienstleistung.
Er kommt zum Schluss, dass die
Neutralität der Schweiz heute gegenüber den meisten internationalen Problemen weder ein Hindernis noch eine Orientierungshilfe ist. Dennoch scheint ihm ein Neutralitätsverzicht
nicht opportun und ein
künftiger Bedeutungsgewinn der
Neutralität nicht ausgeschlossen.
http://www.humboldt.hu/sites/default...er_schweiz.pdf