Die kleine Türkei in Nordsyrien
Nach der Eroberung kurdischer Gebiete hat die Türkei de facto ein Protektorat im Norden Syriens errichtet. Die oppositionelle «Syrische Übergangsregierung» erweist sich als willige Helferin.
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Von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbeobachtet, treibt die Regierung Erdogan ihr koloniales Projekt in Nordsyrien eifrig voran. Als Kolonialmacht trat die Türkei schon einmal auf, als sie 1974 ihr Militär nach Nordzypern entsandte. Bis heute stützt es den international nicht anerkannten Marionettenstaat «Türkische Republik Nordzypern», wo sich über die Jahre viele tausend türkische Bürger angesiedelt haben. Doch anders als in Nordzypern, wo sich die Türkei als Schutzmacht der dortigen türkischen Minderheit geriert, leben in ihrem neuen Expansionsgebiet Nordsyrien keine Türken, dafür aber – schon seit osmanischer Zeit – Angehörige der turkmenischen Minderheitengruppe.
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Zweisprachige Personalausweise
Die Nationalkoalition, der sich auch die Turkmenen anschlossen, nahm Ankaras Schutzangebot gerne an und begann von Istanbul aus zu operieren. Im März 2013 gründeten ihre Mitglieder die «Syrische Übergangsregierung» (SIG). Bei ihren Gegnern galt die SIG spätestens zu dem Zeitpunkt als Marionette der Türkei, als sie die südtürkische Stadt Gaziantep zu ihrem Sitz wählte – und dann ihre Hauptaktivitäten, nach der 2016/17 von der türkischen Armee und deren grösstenteils islamistischen syrischen Verbündeten durchgeführten Militäroperation «Schutzschild Euphrat», in die nordsyrische Stadt Azaz verlegte.
In der «Region Schutzschild Euphrat», wie das Gebiet in den syrischen und türkischen Medien genannt wird, agierte die SIG von Beginn an als Vasall Ankaras. So haben sich nach der türkischen Invasion und der Vertreibung der damals dort schon länger herrschenden IS-Terrormiliz die unter der Ägide der SIG wieder installierten Gemeindeverwaltungen als türkische Satelliten erwiesen. Als solche präsentieren sie sich denn auch offen auf ihren Websites und Facebook-Seiten. Orte wie al-Bab, Jarablus, Kabasin, al-Rai und Akhtarin führen neben den arabischen auch türkische Namen. Ebenfalls zweisprachig sind die neuen Personalausweise, die die Bewohner in den meisten Ortschaften des Gebiets seit rund einem halben Jahr erhalten, deren Personalien nun in türkische Melderegister eingetragen werden.
Türkische Offensive
Der Ausbau der Infrastruktur wird von türkischen Baufirmen betrieben, türkische Unternehmen beliefern und dominieren die Märkte der Region. Das Bank- und Postwesen ist dabei, in türkische Hand überzugehen. In Jarablus und al-Bab wurden schon im Herbst 2017 Filialen der türkischen PTT, die Bank- und Postdienste anbietet, eröffnet. Dieser Schritt wurde von der türkischen Regierung medial geschickt als eine Hilfsmassnahme für die «syrischen Brüder» inszeniert. So liess sich Anfang Januar 2018 der damalige Ministerpräsident Binali Yildirim in einer PTT-Niederlassung in Ankara von einem staatlichen Fernsehsender dabei filmen, wie er ein Geschenkpaket für die Kinder in Jarablus an die dortige Filiale sandte.
Offizielle Währung: Lira
Mittlerweile ist in mehreren grösseren Orten des Gebiets die türkische Lira als offizielle Währung eingeführt worden. In der Stadt Mare, wo dies schon im Mai erfolgte, wird derzeit den Kunden der lokalen PTT-Filiale auf deren Facebook-Seite in einem Video gezeigt, wie sie an dem mehrsprachigen Geldautomaten die türkischen Banknoten abheben können. Neben diesen von der Türkei aus gesteuerten Dienstleistungen wird bereits auch die Telekommunikation in dem Gebiet von türkischen Unternehmen übernommen.
An den Schulen, deren Eingangsschilder – wie auch diejenigen weiterer kommunaler Einrichtungen – inzwischen zweisprachig sind, wird in der Regel neben Arabisch auch Türkisch unterrichtet. Die arabischsprachigen Lehrbücher kommen jetzt aus der Türkei, und die syrischen Lehrkräfte werden in der benachbarten türkischen Grenzregion geschult. Aus der wachsenden Verzahnung mit dem türkischen Staat in sämtlichen Bereichen wird kein Hehl gemacht: Das belegen die offiziellen Formulare und sonstigen Verlautbarungen und Fotos, die auf den Websites der dortigen «Ministerien» und Gemeinden veröffentlicht sind. Dass auch immer mehr Moscheen in der Region von der türkischen Religionsbehörde (Diyanet) renoviert werden und lokale Geistliche auf ihrer Gehaltsliste stehen, wurde im vergangenen Juli vom Diyanet in einem öffentlichen Bericht dargelegt.
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