Der Holodomor als Völkermord. Tatsachen und Kontroversen.
Zum Stand der wissenschaftlichen Diskussion
Referat bei der Tagung „Holodomor 1932-33. Politik der Vernichtung“.
Mannheim 24. November 2007 / von Gerhard Simon
In den Jahren 1932/33 ereignete sich in der Sowjetunion eine der größten humanitären Katastrophen des 20.Jahrhunderts. Sechs bis sieben Millionen Menschen wurden Opfer einer Hungersnot, über die damals so gut wie nichts an die Öffentlichkeit drang. In der Sowjetunion wurde die Große Hungersnot mit einem Tabu belegt. Erst 50 Jahre später begann eine größere Öffentlichkeit –
zunächst in Nordamerika und dann auch in der auseinander brechenden Sowjetunion – Details zu erfahren und Anteil zu nehmen. Inzwischen ist der Holodomor zu einem zentralen Aspekt der Erinnerungskultur in der Ukraine, nicht jedoch in Russland oder Kasachstan geworden.
Die Erinnerung an die Millionen Verhungerten steht in der Ukraine im Zeichen der Distanzierung von der kommunistischen Vergangenheit, und sie dient zugleich der Konsolidierung der Nation im neuen demokratischen Staatswesen. Auch in Russland ist die Hungersnot kein Tabu mehr, aber zu einem breiten Gedächtnis an die Opfer ist es bis heute nicht gekommen.
Die Hungersnot forderte besonders viele Opfer in der Ukraine: nach den Ergebnissen der neueren Forschung 3,5 Millionen Menschen, bei einer Einwohnerzahl von 29 Millionen (1926) waren das mehr als 10% der Bevölkerung. Die Opfer verteilen sich ganz ungleichmäßig über das Land. Am stärksten betroffen waren die damaligen Gebiete Kiew und Charkiv sowie die damalige Autonome Republik Moldova im Bestand der UkrSSR, weniger Hungertote waren im Donbas zu beklagen. Dabei weichen die heutigen administrativen Grenzen erheblich von den damaligen ab. Allerdings weist die Statistik in allen Gebieten der Ukraine für das Jahr 1933 deutlich höhere Sterbeziffern aus als in den Jahren davor und danach. Opfer des Hungers gab es also im ganzen Land; die Menschen verhungerten fast ausschließlich in den Dörfern. In den Städten herrschte zwar auch äußerster Mangel an Nahrungsmitteln, aber der Schwerpunkt des Hungers waren gerade die Getreide produzierenden Regionen. Ganze Dörfer starben aus. Ungefähr 80% der Verhungerten in der Ukraine waren ethnische Ukrainer, denn die ländliche Bevölkerung bestand ganz überwiegend aus ethnischen Ukrainern. Die restlichen 20% der Opfer in der Ukraine verteilten sich auf polnische, moldauische, russische und deutsche Landbewohner. In der westlichen Ukraine, die damals zu Polen, bzw. Rumänien und der Tschechoslowakei gehörte, gab es keine Hungersnot.
Auch außerhalb der Ukraine wütete der Hunger in der Sowjetunion. Am stärksten betroffen waren der Nordkaukasus und hier besonders der Kuban’, wo die Bevölkerungsmehrheit aus Ukrainern und ukrainischen Kosaken bestand, sowie die Regionen Mittlere und Untere Wolga, einschließlich der Autonomen Republik der Wolgadeutschen. Die höchste Zahl der Opfer – gemessen an der Bevölkerungszahl – war in den Steppenregionen Kasachstans zu beklagen. Hier starben die kasachischen Nomaden infolge der zwangsweisen Sesshaftmachung.
Insgesamt starben – wie gesagt - nach Berechnungen von Fachleuten sechs bis sieben Millionen Menschen, davon 3,5 Millionen in der Ukraine, 2 Millionen in Kasachstan, weitere Hunderttausende im Nordkaukasus, an der Wolga und in Westsibirien.
Die genaue Zahl der Opfer wird sich niemals ermitteln lassen, weil standesamtliche Einträge nur unvollständig geführt wurden und die Behörden von Anfang an angewiesen wurden, die Hungeropfer nicht zu dokumentieren. Sogar die Ergebnisse der Volkszählung von 1937 wurden zum Staatsgeheimnis erklärt, und die leitenden Mitarbeiter der Volkszählung verschwanden als Saboteure und Volksfeinde im Gulag. Erst nach dem Ende des Sowjetsystems wurden die Ergebnisse der Volkszählung von 1937 zugänglich; der Vergleich der Ergebnisse der Volkszählung von 1926 und 1937 stellt eine wichtige Quelle für die Berechnung der Opferzahlen dar.
In vielen ländlichen Regionen der Ukraine kam es schon in der ersten Jahreshälfte 1932 zu einer ersten Hungerkatastrophe. Die Zahl der Hungeropfer in diesem ersten Hungerjahr, das auf eine schlechte Getreideernte 1931 folgte, wird auf 144.000 geschätzt. Schlimmeres stand bevor. Nach einer zweiten unterdurchschnittlichen Getreideernte in der Ukraine 1932 verhungerten die Bauern seit dem Spätherbst 1932; die Katastrophe des Holodomor erreichte im Juni 1933 ihren Höhepunkt,
* im September 1933 mit der neuen Ernte war das Hungersterben vorbei.
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