Es sei Ungarn gewesen, wo "der erste Stein aus der Mauer geschlagen" wurde, ruft Helmut Kohl seinen Landsleuten am 4. Oktober 1990 in Berlin in Erinnerung, am Tag nach der Wiedervereinigung. Ungarn also, jenes Land, wo bis heute heimliche Drahtzieher wie stille Helden jener Tage sitzen, an denen dem Honecker-Regime der wohl entscheidende Stoß versetzt wurde - weil für Zehntausende DDR-Flüchtlinge das Tor zum Westen aufging.
Die Namen der Reformkommunisten und Bürgerrechtler, Grenzschutzoffiziere und Pfarrer, die Anteil daran hatten, dass im Grenzland hinter dem Neusiedler See vor einem Holztor mit Stacheldrahtkrone Geschichte geschrieben wurde, waren schnell in aller Munde.
Was sie antrieb, kommt dagegen nur langsam ans Licht.
Ungarns Probleme beginnen schon zwei Kilometer vor der Grenze zu Österreich. Auf Fluchtwillige warten hier, Ende der Achtziger, Stacheldraht und ein sowjetisches Signalsystem vom Typ SZ-100, das über 24-Volt-Schwachstromleitungen Alarm auslöst. Nach Jahrzehnten des Kalten Kriegs hat der Signaldraht Rost angesetzt. Der Chef der Grenztruppen klagt in einer Ministervorlage: "Das zum Drahtwechsel notwendige rostfreie Drahtmaterial beschaffen wir uns aus Westimport für Devisen" - Nachschub aus der Sowjetunion sei nicht mehr zu haben.
Mit vernehmlichem Murren hätten die Grenzschutzoffiziere der Gulasch-Kommunisten damals den Stein ins Rollen gebracht, schreibt der Historiker Andreas Oplatka in seinem kenntnisreichen Werk "Der erste Riss in der Mauer". Weil sie Berichte verfassten, in denen stand, dass Feldhasen, Vögel und verirrte Zecher bis zu 4000-mal im Jahr Fehlalarm an der Grenze auslösten. Und dass fast alle geschnappten Flüchtlinge Ausländer seien.
Die Ungarn selbst dürfen bereits seit Jahresbeginn 1988 reisen, wohin sie wollen. Für Unmut in Budapest sorgen deshalb die Kosten zur Instandhaltung der maroden Grenzanlagen: Umgerechnet fast eine Million Dollar pro Jahr sind zwar, gemessen an den 17 Milliarden Dollar Auslandsschulden, die das Land angehäuft hat, nicht viel; aber doch genug, um als Argument ins Feld geführt zu werden für den Abbau der Grenzanlagen.
Kaum im Amt, streicht Ministerpräsident Miklós Németh Ende 1988 den Etatposten betreffs Instandhaltung des Signalsystems. Am 2. Mai 1989 werden erste Stacheldrahtzäune an der Grenze eingerollt. Als Außenminister Horn acht Wochen später öffentlichkeitswirksam mit dem Bolzenschneider anrückt, bessert Ungarns Armee ihr Budget bereits mit dem Verkauf rostiger Stacheldrahtstücke auf.
"Ich sehe da, ehrlich gesagt, gar kein Problem" - mit diesen Worten kommentierte, Protokollnotizen zufolge, der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow beim Moskau-Besuch von Premier Németh im März 1989 die Pläne der Ungarn, den Eisernen Vorhang zu öffnen. Hat der Kreml-Herrscher, wie Németh heute annimmt, die Konsequenzen dieses Schritts unterschätzt?
In Ungarn ist ja zu diesem Zeitpunkt neben Németh bereits ein Häuflein Reformer am Werk, das sich von den Machthabern im restlichen sozialistischen Lager unterscheidet wie ein Pionierbataillon von der Kampfpanzertruppe. Der Lenker und Schutzpatron aller magyarischen Vor- wie Querdenker heißt Imre Pozsgay.
Pozsgay ist seiner Zeit stets voraus: 1968 bereits verfasst er eine Dissertation über "Möglichkeiten der Demokratie im Sozialismus"; 1981, inzwischen Mitglied des Zentralkomitees, warnt er als Erster vor Ungarns "Weg in die Schuldenfalle"; 1988 nennt er die Grenzanlagen "technisch, moralisch, historisch" überholt und wirkt mit beim Sturz des Langzeitherrschers János Kadár vom Thron der Partei; im Mai 1989 reist er nach West-Berlin, um die im DDR-Deutsch "antifaschistischer Schutzwall" getaufte Mauer eine "Schande" zu nennen. Sie müsse verschwinden
Der von Pozsgay mit eingefädelte Beitritt Ungarns zur Genfer Flüchtlingskonvention wird am 12. Juni wirksam. Die Abschiebung von "Grenzverletzern" in ihre Heimatländer kann nun unter Verweis auf international bindende Vereinbarungen verweigert werden. Am Plattensee wie in Budapest füllen sich in den folgenden Wochen Campingplätze, Parkanlagen und das bundesdeutsche Botschaftsgelände mit Zehntausenden DDR-Bürgern.
Viele von ihnen wittern, wovon zu diesem Zeitpunkt offiziell noch keiner spricht:
dass sich in Ungarn die Tür nach Westen einen Spalt breit geöffnet hat.