Der zweite Punkt betrifft die Geschlechterbeziehungen. Zu den Hauptangriffspunkten der aufklärerischen Kritik gehörte die in der alten Gesellschaft weit verbreitete Auffassung der Ehe als einer Art Vertrag zwischen zwei Familien, der nach Maßgabe äußerer (dynastischer oder finanzieller) Interessen eingegangen wurde; sein Zustandekommen erfolgte ohne Beteiligung der beiden Betroffenen und war von affektiven Beziehungen zwischen ihnen grundsätzlich unabhängig. Liebesbeziehungen wurden stattdessen außerhalb der Ehe mit Liebhabern oder Mätressen unterhalten. In diesem Kontext blühte das ritualisierte Spiel der höfischen Galanterie oder, in extremen Fällen, die erotische Libertinage.
Diesem Modell der Geschlechterbeziehung, das auf einer Separierung von Liebe und Ehe beruhte, setzte die Aufklärung das Ideal einer vernünftigen und natürlichen Liebe entgegen, die vom Druck äußerer Interessen, von religiösen Vorurteilen, von Klassenschranken frei sein und in der Ehe ihre institutionelle Absicherung und gesellschaftliche Anerkennung finden sollte. Liebe und Ehe wurden nun als eine Einheit verstanden, als ein von der Gesellschaft abgeschirmter Bereich bürgerlicher Intimität und Privatheit. An eine Entfesselung von Sinnlichkeit und Sexualität war dabei nicht gedacht; sie sollten im Rahmen der Ehe vielmehr kultiviert und durch Tugend humanisiert werden.31
Da die Geschlechterbeziehung als Modellfall für soziale Beziehungen allgemein galt, wurde sie von den Protagonisten der Aufklärung zu einem zentralen Kampfplatz ihrer Wertepolitik gemacht. Ziel war es, der hegemonialen feudalen Welt- und Lebensauffassung die ‚bürgerlichen‘ Werte der Tugend, der Vernunft, der Natürlichkeit, der Privatheit und der Verantwortlichkeit entgegenzusetzen.
Die Konfrontation von aristokratischer Freizügigkeit und bürgerlicher Tugend durchzieht daher die Literatur des 18. Jahrhunderts wie ein basso continuo. Erinnert sei nur an Samuel Richardsons Roman Clarissa (1747ff.) in England, an Lessings bürgerliches Trauerspiel Emilia Galotti (1772) in Deutschland und an Choderlos de Laclos‘ Liaisons dangereuses (1782) in Frankreich. In allen diesen Werken geht es um Angehörige des Adels, die ihre erotischen Ambitionen rücksichtslos verfolgen und dabei ihre soziale Vorrangstellung und ihre Adelsprivilegien vor allem bürgerlichen Mädchen und Frauen gegenüber gezielt einsetzen.
Diese hingegen versuchen ihre Tugend zu bewahren und nehmen dafür, wie im Fall von Emilia Galotti, auch den selbstgewählten Tod in Kauf.
Betrachten wir Mozarts Oper im Kontext dieser aufklärerischen Position zu den Themen ‚Moral‘ und ‚Liebe und Ehe‘, so liegt auf der Hand, daß ihr Titelheld in einer Linie mit Robert Lovelace, mit dem Prinzen von Guastalla und mit dem Vicomte de Valmont zu interpretieren ist: mit den negativen Helden der drei genannten Werke.32 Dies wird nicht allein an der Rücksichtslosigkeit deutlich, mit der er seine sexuellen Interessen durchzusetzen versucht, sondern mehr noch an den von da Ponte und Mozart akzentuierten sozialen Grundlagen seiner Lebens- und Handlungsweise. Wir haben einen Don vor uns, d.h. einen Grundherrn, der über einen Palast, über eine Dienerschaft, über reichliche Geldmittel und über die entsprechenden Adelsprivilegien verfügt. Er verkehrt in höheren Kreisen, zu denen offenbar auch Donna Anna und ihr ranghoher Vater gehören; unter seinen Eroberungen befinden sich nach Auskunft der „Registerarie“ Gräfinnen, Baronessen, Fürstinnen und Marquisen. Er kann die Gäste der Bauernhochzeit auf ein Schloß mit Parkanlage einladen; er kann ihnen Kaffee und Schokolade, zwei im 18.
Jahrhundert exklusive Genußmittel, sowie Eisgetränke reichen und Musik aufspielen lassen. – Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt die Zerlina-Episode. Zunächst (I,8) schüchtert Don Giovanni ihren Bräutigam mit dem Degen ein, hier als eine soziale Waffe verwendet, die den ungeheuren sozialen Abstand zwischen einem Don und einem Bauern symbolisieren soll.33
So unerträglich der Gedanke für viele Interpreten sein mag: den Idealen der Aufklärung entspricht nicht der Libertin Don Giovanni, sondern der vielbelächelte Don Ottavio mit seiner empfindsamen Liebe zu Donna Anna und seinem Streben nach ehelicher Gemeinschaft mit ihr