Handelsblatt / 01.12.2024 / Inga Rogg
Nahost-Konflikt
Eroberung von Aleppo nur Zwischenziel für syrische Rebellen
Nachdem Aufständische das Wirtschaftszentrum erobert haben, rücken sie weiter Richtung Zentralsyrien vor. Der Bürgerkrieg flammt wieder auf und bringt den Präsidenten zunehmend in Bedrängnis.
Istanbul. Syrische Aufständische sind nach der Einnahme der Millionenstadt Aleppo am Wochenende nach Süden Richtung der Stadt Hama vorgerückt. Die Stadt im Zentrum des Landes liegt an der wichtigsten Verbindungsstraße von Norden in Richtung der Hauptstadt Damaskus.
Es ist das erste Mal in der Geschichte des Landes, dass sich Aleppo in den Händen von Oppositionellen befindet: der Großteil unter der Kontrolle von
Sunniten, vier Stadtteile unter der Kontrolle von
Kurden. Die Regierung in Damaskus bestätigte den Verlust der Stadt indirekt. Die Truppen seien verlegt worden, hieß es. In Aleppo sei es ruhig, sagte der Syrien-Experte Navvar Saban im Gespräch mit dem Handelsblatt.
Auf dem Vormarsch in Richtung Hama, das knapp 140 Kilometer südlich von Aleppo liegt, nahmen die Aufständischen den Flughafen von Aleppo, einen Militärflughafen und andere strategische Orte ein. Hama konnten sie zunächst aber nicht erobern. In der gleichnamigen Provinz brachte die Armee ihre Truppen in Stellung, wie Beobachter auf verschiedenen Onlineplattformen bestätigten.
Von Assad ist wenig zu hören
Saban ist für den auf Syrien spezialisierten Thinktank Harmoor Center in Istanbul tätig, er bezeichnet die Entwicklung als „riesiges Erdbeben“. Denn der syrische Machthaber Baschar al-Assad gerate dadurch unter Druck.
Dennoch meldet sich Assad kaum zu Wort. Er
telefonierte lediglich mit verschiedenen
Staats- und
Regierungschefs, unter anderem mit dem
Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Scheich Mohammed bin Sajid Al Nahjan.
Mithilfe seiner
Verbündeten und
Freunde werde Syrien die „Terrorattacken“
zurückschlagen, sagte Nahjan laut der staatlichen Rundfunkbehörde. Im Laufe des Tages werde der
iranische Außenminister Abbas Araghchi in
Damaskus erwartet.
Langjährige Beobachter des Konflikts hatten zwar damit gerechnet, dass die Aufständischen in den nächsten Wochen eine Offensive starten. Die Geschwindigkeit, mit der sie jetzt Aleppo eroberten und weiter vormarschieren, hat viele aber überrascht. Unterdessen
bombardierten die
syrische und die
russische Luftwaffe Gebiete in der Rebellenhochburg
Idlib. Die Luftangriffe erfolgten auf einzelne Ortschaften weit von der Frontlinie entfernt, sagt Saban. Sie seien jedoch nicht mit früheren Einsätzen zu vergleichen.
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Damals kontrollierten verschiedene Rebellengruppen den Ostteil von Aleppo.
Russische Kampfjets bombardierten ihn jedoch so lange, bis die Kämpfer und mit ihnen die ausgezehrte Zivilbevölkerung aufgeben mussten. Sie flohen in den Nordwesten, in die Provinz Idlib oder in die Türkei und von dort nach
Europa. Am Boden wurde Assad damals von der
libanesischen Hisbollah-Miliz und
iranischen Revolutionswächtern unterstützt. Nun aber sind sie wegen des Konflikts mit
Israel massiv geschwächt. Die Hisbollah musste nach monatelangen verlustreichen Kämpfen diese Woche einem Waffenstillstand zustimmen.
„Assad braucht die Unterstützung von Russland, dem Iran und der Hisbollah“, sagt der Syrien-Experte Saban. „Ohne sie kann das Regime die verloren gegangenen Gebiete nicht zurückgewinnen.“
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Die jetzige Offensive wird von der
HTS angeführt, sie nennt sich Organisation zur Befreiung von Syrien. Hervorgegangen ist die
HTS aus dem syrischen Zweig der
Terrororganisation al-Qaida, sie steht auf der Terrorliste der USA. Heute kontrolliert sie die nordwestliche Provinz Idlib, wo sie eine eigene Regierung und quasistaatliche Institutionen aufgebaut hat. Ihr Chef ist
Abu Mohammed al-Jolani, der ehemalige Sprecher der syrischen al-Qaida. Von der al-Qaida hat sich die HTS vor Jahren getrennt. Seitdem habe sie sich gemäßigt, sagen Experten. Erzkonservativ sind die Islamisten aber weiterhin. Während des Einmarschs in Aleppo bemühte sich Jolani, Ängste von Christen oder anderen Minderheiten zu zerstreuen. Ausdrücklich gab er den Befehl, Zivilisten zu schonen und gefangen genommene Soldaten nicht zu töten. Freudenfeiern über die „Befreiung“ gab es in Aleppo dennoch nicht. Bilder aus der Stadt, die in den sozialen Medien verbreitet wurden, zeigten verwaiste Straßen und geschlossene Läden.
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