Osteuropa / 19.6.2023 (Auszug)
"Eine schwere, aber unerlässliche Entscheidung"
Der Einsatz von Atomwaffen kann die Menschheit vor einer globalen Katastrophe bewahren
Sergej Karaganov gehört zum außenpolitischen Establishment in Russland. Nun fordert er den Einsatz von Atomwaffen, um die Ukraine zu besiegen, ihre Unterstützer abzuschrecken und den Niedergang des „kollektiven Westens“ zu beschleunigen. Der Text ist ein Beispiel für die grassierende Radikalisierung der politischen Elite. Wir dokumentieren ihn in deutscher Übersetzung.
Sergej Karaganov, 19.6.2023
Wachsende Bedrohung
Unser Land, seine Führung, stehen, wie mir scheint, vor einer schweren Wahl. Es wird immer deutlicher, dass die
Konfrontation mit dem Westen auch dann
nicht endet, wenn wir einen
Teilsieg oder sogar einen
vernichtenden Sieg über die
Ukraine erringen.
Ein
Minimalsieg wäre es, wenn wir die Gebiete
Doneck, Lugansk, Zaporož’e und
Cherson vollständig
befreien. Ein etwas größerer Erfolg wäre die Befreiung des Südens und Ostens der gegenwärtigen Ukraine im Verlaufe der kommenden 2-3 Jahre. Doch dann bleibt trotzdem
ein Stück Ukraine mit einer noch
verbitterteren ultranationalistischen Bevölkerung auf einem
Berg von
Waffen übrig – eine
blutende Wunde, die unausweichlich mit Schwierigkeiten, einem
neuen Krieg droht.
Die nahezu
schlimmste Lage könnte entstehen, wenn wir um den Preis schrecklicher Opfer die
gesamte Ukraine befreien und dann auf
Ruinen sowie einer
Bevölkerung sitzen, die uns zum größten Teil hasst. Ihre
„Umerziehung“ wird
mehrere Jahrzehnte dauern.
Alle
genannten Varianten und insbesondere die letzte werden Russland von der
dringend benötigten Verschiebung seines geistigen, wirtschaftlichen und militärisch-politischen Zentrums in den Osten Eurasiens ablenken.[1] Wir verheddern uns an der zukunftslosen Westfront. Die
Territorien der
heutigen Ukraine, vor allem die
zentralen und
westlichen, würden
administrative, humane und
finanzielle Ressourcen binden. Schon zu
sowjetischen Zeiten wurden diese Gebiete
massiv subventioniert. Die
Feindschaft mit dem
Westen hält an, dieser wird einen von
Partisanen auf
kleiner Flamme geführten
Bürgerkrieg unterstützen.
Eine
attraktivere Variante ist eine Befreiung des Ostens und des Südens der Ukraine, ihre Wiedervereinigung mit Russland, bei der den verbleibenden Resten der Ukraine eine Kapitulation
aufgezwungen wird ‑ mit vollständiger
Demilitarisierung und
Schaffung eines
befreundeten Pufferstaats. Aber ein solcher Ausgang des Kriegs ist nur möglich, wenn wir den
Willen des Westens
brechen können, so dass dieser die
Kiewer Junta nicht mehr
aufhetzt und
unterstützt, wenn wir ihn zu einem strategischen Rückzug
zwingen.
Hier komme ich zu der wichtigsten, aber nahezu
gar nicht diskutierten Frage:
Der
tiefe, der
eigentliche Grund der
Ukraine-Krise wie so vieler anderer Konflikte dieser Welt, die Ursache der
allgemeinen Erhöhung der
Kriegsgefahr, ist der
immer schnellere Niedergang der herrschenden
westlichen Eliten, die bei der letzten
Globalisierungsrunde der vergangenen Jahrzehnte
geschaffen wurden und die in Europa größtenteils aus
Kompradoren besteht (Kompradoren nannten die portugiesischen Kolonialherren die örtlichen Händler, die ihnen zu Diensten waren – S.K.).
Dieser
Niedergang ist von einer beispiellos raschen
Veränderung des
globalen Kräfteverhältnisses begleitet – zugunsten der Globalen Mehrheit.[2] Deren ökonomische Lokomotive ist China, teilweise auch Indien; die Rolle des militärstrategischen Stützpfeilers aber hat die Geschichte Russland zugewiesen.
Diese
Schwächung des
Westens erzürnt nicht nur die imperial-kosmopolitischen Eliten (Biden und Co.), sondern erschreckt auch die imperial-nationalen Eliten (Trump).
Der Westen verliert nach über 500 Jahren die Möglichkeit, den Reichtum aus der gesamten Welt zu saugen, ihr – in erster Linie mit grober Gewalt – seine politische und wirtschaftliche Ordnung, seine kulturelle Dominanz aufzuzwingen.
Ein
schnelles Ende der vom
Westen zu seiner Verteidigung
entfachten aggressiven Konfrontation ist also nicht zu erwarten. Dieser
Einsturz moralischer, politischer und wirtschaftlicher Positionen zeichnete sich seit Mitte der
1960er Jahre ab, wurde durch den Zusammenbruch der UdSSR unterbrochen und nahm in den 2000er Jahren
neue Fahrt auf
(Meilensteine waren die
Niederlagen der USA und ihrer Verbündeten im Irak und in Afghanistan sowie der
Beginn der Krise des westlichen
Wirtschaftsmodells im Jahr 2008).
Um dieses
lawinenartige Abrutschen zu bremsen, konsolidierte sich der Westen vorübergehend. Die USA verwandelten die Ukraine in eine
Schlagfaust, um mit ihrer Hilfe Russland – dem politischen und militärischen Scharnier der sich von den Fesseln des Neokolonialismus befreienden
nichtwestlichen Welt ‑ die Hände zu
binden. Die Idealvorstellung der Amerikaner war, unser Land einfach in die Luft zu jagen und auf diese Weise die aufsteigende alternative Supermacht China massiv zu
schwächen. Wir aber
zögerten mit dem
Abschreckungsschlag ‑ sei es, weil wir nicht verstanden hatten, dass der Zusammenstoß unausweichlich ist, oder weil wir Kräfte sammelten. Zudem erhöhten wir im Strom des gängigen, vor allem vom Westen geprägten militärpolitischen Denkens unvorsichtig die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen, schätzten die Situation in der Ukraine falsch ein und begannen die Spezialoperation nicht ganz erfolgreich.
Im Zuge ihres
inneren Zusammenbruchs begannen die
westlichen Eliten all jenes
Unkraut zu nähren, das auf dem Boden von 70 Jahren
Wohlstand, Sattheit und
Frieden gewachsen war, alle diese
antihumanen Ideologien, die der
Familie, der
Heimat, der
Geschichte, der
Liebe zwischen Mann und Frau, dem
Glauben, dem
Dienst an höheren Idealen, allem, was das
Wesen des
Menschen ausmacht, den
Kampf ansagen.
Wer sich
wehrt, wird
aussortiert. Das
Ziel ist die
Versklavung der
Menschen, sie sollen ihrer Fähigkeit
beraubt werden,
Widerstand gegen die immer offensichtlicher werdende
Ungerechtigkeit des dem
Menschen und der
Menschheit Schaden zufügenden modernen
„globalistischen“ Kapitalismus zu leisten.
Die
schwächer werdenden USA
ziehen Europa und andere von ihnen abhängige Ländern mit
herab, indem sie versuchen, nach der Ukraine auch sie in den
Kessel der
Konfrontation zu ziehen. In den meisten dieser Staaten haben die Eliten die Orientierung
verloren, sie geraten wegen des
Niedergangs ihrer
innerstaatlichen und
internationalen Position in
Panik und führen ihre Länder
gehorsam ins
Verderben.
Da der
Niedergang dieser Eliten noch
stärker ist, sie sich
machtlos fühlen, auch aufgrund ihrer
jahrhundertealten Russophobie, ihrer
intellektuellen Degradation und des
Verlusts an
strategischer Kultur ist ihr
Hass fast noch heftiger als in den
USA.
Die Entwicklung geht in der Mehrheit der Länder des Westens eindeutig in Richtung eines neuen Faschismus und eines (einstweilen) „liberalen“ Totalitarismus.
Es wird, und das ist das Wichtigste, immer
schlimmer dort. Waffenruhen werden wohl möglich sein, Frieden
nicht. Die Wut und die Verzweiflung werden – bei vorübergehenden Manövern – in Wellen
wachsen. Diese Entwicklung des Westens ist ein eindeutiges Zeichen, dass er in Richtung
Entfesselung eines
Dritten Weltkriegs driftet. Dieser
beginnt bereits und kann wegen eines
Zufalls oder der wachsenden
Inkompetenz und
Verantwortungslosigkeit der herrschenden Kreise des Westens zu einem
wahrhaftigen Brand werden.
...
Sergej Karaganov, 19.6.2023
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