Osteuropa / 19.6.2023 (Auszug)
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Wachsende Bedrohung
Unser Land, seine Führung, stehen, wie mir scheint, vor einer schweren Wahl. Es wird immer deutlicher, dass die Konfrontation mit dem Westen auch dann nicht endet, wenn wir einen
Teilsieg oder sogar einen
vernichtenden Sieg über die Ukraine
erringen.
Ein Minimalsieg wäre es, wenn wir die Gebiete Doneck, Lugansk, Zaporož’e und Cherson vollständig befreien. Ein etwas größerer Erfolg wäre die Befreiung des Südens und Ostens der gegenwärtigen Ukraine im Verlaufe der kommenden 2-3 Jahre. Doch dann bleibt trotzdem ein Stück Ukraine mit einer noch verbitterteren ultranationalistischen Bevölkerung auf einem Berg von Waffen übrig – eine blutende Wunde, die unausweichlich mit Schwierigkeiten, einem
neuen Krieg droht.
Die nahezu
schlimmste Lage könnte entstehen, wenn wir um den Preis schrecklicher Opfer die
gesamte Ukraine befreien und dann auf Ruinen sowie einer Bevölkerung sitzen, die uns zum größten Teil hasst. Ihre
„Umerziehung“ wird
mehrere Jahrzehnte dauern.
Alle genannten Varianten und insbesondere die letzte werden Russland von der dringend benötigten Verschiebung seines geistigen, wirtschaftlichen und militärisch-politischen Zentrums in den Osten Eurasiens ablenken.[1] Wir verheddern uns an der
zukunftslosen Westfront. Die
Territorien der
heutigen Ukraine, vor allem die zentralen und westlichen, würden administrative, humane und finanzielle Ressourcen
binden. Schon zu
sowjetischen Zeiten wurden diese Gebiete
massiv subventioniert. Die
Feindschaft mit dem
Westen hält an, dieser wird einen von
Partisanen auf
kleiner Flamme geführten Bürgerkrieg
unterstützen.
Eine
attraktivere Variante ist eine Befreiung des Ostens und des Südens der Ukraine, ihre Wiedervereinigung mit Russland, bei der den
verbleibenden Resten der Ukraine
eine Kapitulation aufgezwungen wird ‑ mit
vollständiger Demilitarisierung und
Schaffung eines befreundeten
Pufferstaats. Aber ein solcher Ausgang des Kriegs ist nur möglich, wenn wir
den Willen des
Westens brechen können, so dass dieser die Kiewer Junta
nicht mehr
aufhetzt und
unterstützt, wenn wir ihn zu einem strategischen Rückzug
zwingen.
Hier komme ich zu der wichtigsten, aber nahezu gar nicht diskutierten Frage:
Der
tiefe, der
eigentliche Grund der Ukraine-Krise wie so vieler anderer Konflikte dieser Welt, die Ursache der
allgemeinen Erhöhung der
Kriegsgefahr, ist der immer
schnellere Niedergang der herrschenden
westlichen Eliten, die bei der
letzten Globalisierungsrunde der vergangenen Jahrzehnte
geschaffen wurden und die in
Europa größtenteils aus
Kompradoren besteht (Kompradoren nannten die portugiesischen Kolonialherren die örtlichen Händler, die ihnen zu Diensten waren – S.K.).
Dieser
Niedergang ist von einer
beispiellos raschen Veränderung des globalen Kräfteverhältnisses begleitet – zugunsten der Globalen Mehrheit.[2] Deren ökonomische Lokomotive ist China, teilweise auch Indien; die Rolle des militärstrategischen Stützpfeilers aber hat die Geschichte Russland zugewiesen.
Diese
Schwächung des
Westens erzürnt nicht nur die
imperial-kosmopolitischen Eliten (Biden und Co.), sondern erschreckt auch die
imperial-nationalen Eliten (Trump).
Der
Westen verliert nach über
500 Jahren die
Möglichkeit, den
Reichtum aus der
gesamten Welt zu
saugen, ihr – in
erster Linie mit
grober Gewalt – seine
politische und
wirtschaftliche Ordnung, seine
kulturelle Dominanz aufzuzwingen.
Ein
schnelles Ende der vom
Westen zu seiner Verteidigung entfachten aggressiven Konfrontation ist also nicht zu erwarten. Dieser
Einsturz moralischer, politischer und
wirtschaftlicher Positionen zeichnete sich seit Mitte der 1960er Jahre ab, wurde durch den Zusammenbruch der UdSSR
unterbrochen und nahm in den
2000er Jahren neue Fahrt auf (
Meilensteine waren die
Niederlagen der
USA und ihrer
Verbündeten im
Irak und in
Afghanistan sowie der
Beginn der
Krise des
westlichen Wirtschaftsmodells im Jahr 2008).
Um dieses lawinenartige Abrutschen zu bremsen, konsolidierte sich der Westen vorübergehend. Die USA verwandelten die Ukraine in eine Schlagfaust, um mit ihrer Hilfe Russland – dem politischen und militärischen Scharnier der sich von den Fesseln des Neokolonialismus befreienden nichtwestlichen Welt ‑ die Hände zu binden. Die Idealvorstellung der Amerikaner war, unser Land einfach in die Luft zu jagen und auf diese Weise die aufsteigende alternative Supermacht China massiv zu schwächen. Wir aber zögerten mit dem Abschreckungsschlag ‑ sei es, weil wir nicht verstanden hatten, dass der Zusammenstoß unausweichlich ist, oder weil wir Kräfte sammelten. Zudem erhöhten wir im Strom des gängigen, vor allem vom Westen geprägten militärpolitischen Denkens unvorsichtig die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen, schätzten die Situation in der Ukraine falsch ein und begannen die Spezialoperation nicht ganz erfolgreich.
Im
Zuge ihres
inneren Zusammenbruchs begannen die
westlichen Eliten all
jenes Unkraut zu
nähren, das auf dem
Boden von 70 Jahren
Wohlstand, Sattheit und
Frieden gewachsen war, alle diese
antihumanen Ideologien, die der
Familie, der
Heimat, der
Geschichte, der
Liebe zwischen
Mann und
Frau, dem
Glauben, dem
Dienst an
höheren Idealen, allem, was das
Wesen des
Menschen ausmacht, den
Kampf ansagen.
Wer sich
wehrt, wird
aussortiert. Das
Ziel ist die
Versklavung der
Menschen, sie sollen ihrer
Fähigkeit beraubt werden,
Widerstand gegen die
immer offensichtlicher werdende
Ungerechtigkeit des dem
Menschen und der
Menschheit Schaden zufügenden
modernen „globalistischen“ Kapitalismus zu leisten.
Die
schwächer werdenden USA ziehen Europa und andere von ihnen abhängige Ländern
mit herab, indem sie versuchen, nach der Ukraine auch sie in den Kessel der Konfrontation zu ziehen. In den meisten dieser Staaten haben die
Eliten die Orientierung
verloren, sie geraten wegen des
Niedergangs ihrer innerstaatlichen und internationalen Position in
Panik und
führen ihre Länder
gehorsam ins
Verderben.
Da der
Niedergang dieser
Eliten noch
stärker ist, sie sich
machtlos fühlen, auch aufgrund ihrer
jahrhundertealten Russophobie, ihrer
intellektuellen Degradation und des
Verlusts an
strategischer Kultur ist ihr
Hass fast noch
heftiger als in den
USA.
Die
Entwicklung geht in der
Mehrheit der
Länder des
Westens eindeutig in Richtung eines
neuen Faschismus und eines
(einstweilen) „liberalen“ Totalitarismus.
Es
wird, und das ist das
Wichtigste, immer
schlimmer dort. Waffenruhen werden wohl möglich sein, Frieden
nicht. Die Wut und die Verzweiflung werden – bei vorübergehenden Manövern – in Wellen
wachsen. Diese
Entwicklung des Westens ist ein
eindeutiges Zeichen, dass er in Richtung
Entfesselung eines
Dritten Weltkriegs driftet. Dieser
beginnt bereits und kann wegen eines
Zufalls oder der wachsenden
Inkompetenz und
Verantwortungslosigkeit der
herrschenden Kreise des
Westens zu einem
wahrhaftigen Brand werden.
...
Sergej Karaganov, 19.6.2023
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