FOCUS-Online / 06.06.2024 / Berthold Kuhn
Abkehr vom Westen?
Türkei strebt nach BRICS-Mitgliedschaft - was hinter dem geopolitischen Schachzug steckt
Bereits in BRICS vereint sind Großmächte wie China (XI Jingping), Indien (Modi), Russland (Putin) und weitere Staaten. Nun denkt auch die Türkei (Erdogan) einzusteigen, um dem Westen vereint die Stirn zu bieten. Die Türkei und China haben anlässlich eines Besuchs des türkischen Außenministers Hakan Fidan in Peking über eine mögliche Mitgliedschaft der Türkei in der BRICS-Gruppe gesprochen. Dies ist eine weitere Entwicklung in Richtung
multipolarer Weltordnung, analysiert Politik-Experte Berthold Kuhn.
Was könnte die Motivation der Türkei sein, Mitglied von BRICS werden zu wollen?
Die Motivation der Türkei, Mitglied von BRICS zu werden, würde das Streben der Türkei nach einem
„neuen Platz“ in der sich verändernden Weltordnung und ihren
wirtschaftspolitischen Pragmatismus unterstreichen. Durch eine
Mitgliedschaft könnte die Türkei ihre Wirtschaft
breiter aufstellen und sich weniger anfällig für externe Schocks machen. Zudem könnte sie ihren geopolitischen Einfluss
erweitern.
Wer sind die BRICS-Staaten?
Seit seiner Gründung im Jahr 2006 durch Brasilien, Russland, Indien und China hat sich BRICS zu einem bedeutenden Bündnis von aufstrebenden Volkswirtschaften entwickelt. Angesichts der wirtschaftlichen Stagnation in den Industrienationen haben Investoren vermehrt ihr Augenmerk auf diese Staaten gerichtet, was zu einer verstärkten Emission von Finanzprodukten führte. Die Erweiterung um Südafrika im Jahr 2010 und jüngst um
Ägypten, Äthiopien, Iran und die
Vereinigten Arabischen Emirate zu Beginn des Jahres 2024 unterstreicht die
wachsende Bedeutung des Bündnisses. Diese Erweiterung hat dazu geführt, dass in der internationalen Diplomatie von
"BRICS plus" die Rede ist. Obwohl Argentinien zunächst Interesse bekundete, hat das Land nach der Wahl eines neuen libertären Präsidenten entschieden, dem Bündnis nicht beizutreten. Speziell
China ist an der Ausweitung und Stärkung des Bündnisses interessiert, um sein wirtschaftliches Gewicht auch weltpolitisch stärker einbringen zu können.
BRICS hat sich als
bedeutende Gruppe auf der
globalen Bühne etabliert, die alternative wirtschaftspolitische zu westlich dominierten Institutionen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) anbietet. Die Türkei könnte ihre
Souveränität durch
mehr Unabhängigkeit von westlichen politischen und wirtschaftlichen Staaten stärken wollen und durch die Zusammenarbeit mit BRICS-Staaten Alternativen zu westlich dominierten Finanzsystemen und internationalen Regeln finden. Darüber hinaus könnten
Investitionen und
Handel gefördert werden, da
BRICS-Mitglieder oft an
gemeinsamen Entwicklungsprojekten arbeiten und
gegenseitig in ihre Volkswirtschaften
investieren.
Technologie- und
Wissenstransfer könnten ebenfalls eine Rolle spielen. Eine Mitgliedschaft in BRICS könnte der Türkei Zugang zu
technologischen Innovationen und
Know-how aus den Mitgliedsländern verschaffen, insbesondere aus
China und
Indien, die
führend in Bereichen wie Technologie und Wissenschaft sind. Schließlich verfügt
BRICS über Institutionen wie die
Neue Entwicklungsbank (NDB), die Infrastrukturprojekte und Entwicklungsinitiativen in Mitgliedsländern finanziert. Die
Türkei könnte von solchen Finanzierungen
profitieren, um ihre
eigene wirtschaftliche Entwicklung zu fördern.
Welche Auswirkungen könnte eine Mitgliedschaft der Türkei in BRICS auf die europäische Union und die globale Wirtschaft haben?
Die mögliche Mitgliedschaft der
Türkei in
BRICS würde sowohl die
Europäische Union (EU) als auch die globale Wirtschaft
beeinflussen. Geopolitisch gesehen, könnte sich die Türkei stärker auf die BRICS-Staaten ausrichten, was die Dynamik der EU-Türkei-Beziehungen verändern und möglicherweise zu erhöhten Spannungen führen könnte. Auf wirtschaftlicher Ebene könnten engere Bindungen der Türkei an BRICS-Staaten die Handelsbeziehungen zur EU beeinflussen. Es besteht die Möglichkeit, dass türkische Unternehmen verstärkt in BRICS-Länder exportieren und importieren, was zu einer
Veränderung der
Handelsströme führen könnte. Zudem könnte die Türkei durch eine BRICS-Mitgliedschaft an Einfluss in globalen Institutionen gewinnen, was auch
Auswirkungen auf die EU und die
Außenpolitik der
EU Mitgliedstaaten hätte.
In Bezug auf die globale Wirtschaft könnten Investitionen und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den BRICS-Staaten das Wirtschaftswachstum der Türkei ankurbeln und zu einer stärkeren Integration in die globale Wirtschaft führen. Eine engere Anbindung an BRICS könnte Auswirkungen auf die globalen Finanzmärkte haben, insbesondere bei einer Zunahme von Finanztransaktionen und Handel in den Währungen der BRICS-Staaten. Darüber hinaus könnten neue Handelsallianzen geschmiedet werden, was Druck auf bestehende Handelsabkommen und wirtschaftliche Partnerschaften ausüben könnte.
Eine intensivere Zusammenarbeit zwischen der Türkei und den
rohstoffreichen BRICS-Staaten könnte zudem die globalen Rohstoffmärkte
beeinflussen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Mitgliedschaft der Türkei in BRICS
signifikante geopolitische und
wirtschaftliche Veränderungen mit sich bringen würde, welche sowohl die EU als auch die globale Wirtschaft beeinflussen könnten.
...
Welche nächsten Schritte könnten wir erwarten, wenn die Türkei ernsthaft eine BRICS-Mitgliedschaft in Betracht zieht?
Sollte die Türkei tatsächlich eine Mitgliedschaft in der BRICS-Gruppe anstreben, könnten die nächsten Schritte in etwa folgendermaßen aussehen: Zunächst hat die Türkei den Besuch ihres Außenministers in Peking strategisch genutzt, um die Idee einer BRICS-Mitgliedschaft ins Spiel zu bringen. Sie strebt engere wirtschaftspolitische Beziehungen zu China und den anderen Mitgliedstaaten an, wobei sie sich der außenpolitischen Risiken in Bezug auf Russland bewusst ist. Daher ist auf dem bevorstehenden BRICS-Gipfel in Russland im Oktober noch keine Entscheidung zu erwarten. Der Kreml hat jedoch bereits Interesse
signalisiert, das Thema auf die Agenda des
BRICS-Gipfels 2024 zu setzen.
Auch wird die Türkei die Folgen der Wahlergebnisse in Indien und in Südafrika beobachten wollen. Speziell in Südafrika hat die Regierungspartei, der African National Congress, erhebliche Einbußen hinnehmen müssen. In Indien wird Premier Modi weiter regieren können, aber sein Koalitionsbündnis hat empfindliche Einbußen hinnehmen müssen. Die Türkei würde intensive diplomatische Gespräche mit den bestehenden BRICS-Mitgliedern führen, um Unterstützung für ihre Mitgliedschaft zu gewinnen.
Parallel dazu könnte die türkische Regierung öffentliches Interesse und Engagement für die BRICS-Gruppe signalisieren, um ihren politischen Willen und ihre Entschlossenheit zu demonstrieren. Darüber hinaus könnte die Türkei einen Beobachterstatus bei BRICS-Treffen anstreben und an wichtigen Diskussionen teilnehmen, um Beziehungen zu den Mitgliedsländern zu stärken. Gleichzeitig könnte sie wirtschaftliche und handelspolitische Maßnahmen ergreifen, um ihre Wirtschaft stärker mit den BRICS-Staaten zu verflechten und dadurch ihre Attraktivität als potenzielles Mitglied zu erhöhen.
Die
Türkei könnte auch
bilaterale Abkommen mit
BRICS-Staaten abschließen, um
wirtschaftliche und
politische Zusammenarbeit zu vertiefen. Sie würde ihre Außenpolitik anpassen und eine stärkere Ausrichtung auf BRICS-Themen in internationalen Foren zeigen. Schließlich würde die Türkei formell einen Antrag auf Mitgliedschaft einreichen und den formalen Prozess zur Aufnahme in die BRICS-Gruppe durchlaufen. Diese Schritte würden zeigen, dass die Türkei es ernst meint mit ihrer Absicht, BRICS-Mitglied zu werden, und bereit ist, sich aktiv in die Gruppe zu integrieren.
Wie wäre eine BRICS-Mitgliedschaft der Türkei geopolitisch zu bewerten?
Eine mögliche BRICS-Mitgliedschaft der Türkei wäre ein
bedeutender geopolitischer Schritt, der die Entwicklungen hin zu einer
multipolaren Weltordnung und einer
pragmatischen Ausrichtung wirtschaftspolitischer Beziehungen von Schwellenländern verdeutlichen würde. Sie würde die geopolitische Landschaft verändern und die Rolle der Türkei auf der globalen Bühne stärken.
Allerdings gäbe es auch strategische und diplomatische Herausforderungen, insbesondere für die Türkei selbst, die EU und die NATO. Die Türkei stünde in Zeiten geopolitischer Krisen und geoökonomischer Konflikte ständig vor Herausforderungen, eine Balance zwischen den Vorteilen neuer Partnerschaften und den bestehenden Verpflichtungen gegenüber westlichen Institutionen zu finden. Eine solche Mitgliedschaft könnte
Spannungen mit der EU und der NATO
hervorrufen, da sich die Türkei enger an nicht-westliche Mächte wie China und Indien bindet und in einen Staatenbund eintritt, in dem auch Russland eine wichtige Rolle spielt.
Die Sorge um verstärkte autoritäre politische Tendenzen in der Türkei und um BRICS als Gegengewicht zu westlich dominierten Institutionen könnte zunehmen. Zudem könnte die Türkei den Einfluss von BRICS in internationalen Institutionen wie der UNO und dem IWF
stärken. Wirtschaftlich gesehen könnte die Türkei von neuen Märkten und Investitionen sehr wahrscheinlich profitieren, insbesondere durch engere Beziehungen zu China und Indien. Dennoch müsste sie eine Balance zwischen ihren traditionellen westlichen Verbündeten und den neuen BRICS-Partnerschaften finden, was komplexe diplomatische Herausforderungen, speziell gegenüber den USA der EU und der NATO, mit sich bringen würde.
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