Frankfurter Rundschau / 28.02.2024 / von Joshua Schoessler
Ukraine: Geschichte und Gegenwart eines zerrütteten Landes
Kiew – Die Ukraine verteidigt sich seit mehr als zwei Jahren gegen eine russische Invasion. Kämpfe gibt es im Osten des Landes seit 2014, nachdem sich von Russland unterstützte Separatisten in den Gebieten Luhansk und Donezk von Kiew losgesagt hatten. Kremlchef Wladimir Putin hat die Invasion am 24. Februar 2022 befohlen und damit Tod und Zerstörung über das Nachbarland gebracht. Die Ukraine verteidigt sich mit militärischer, finanzieller und militärischer Hilfe des Westens gegen den Überfall.
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Die Ukraine gerät im 17. Jahrhundert unter russische Zarenherrschaft
Ähnlich wie
Belarus und
Russland sieht die
Ukraine sich als
Nachfolgestaat des historischen Reiches der
Kiewer Rus. Dieses
vereinigte Ostslawen vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee und
zerfiel nach der
mongolischen Invasion im
13. Jahrhundert. Im
14. Jahrhundert geriet ein Großteil der Ukraine unter die
litauisch-polnische Herrschaft, bis es
1569 schließlich Teil des
Königreichs Polen wurde.
Die
Herrschaft durch das
Königreich Polen ging jedoch nicht widerstandslos von sich. Insbesondere die
Kosaken taten sich hier hervor, die in freien Gemeinschaften in der Steppe lebten und für ihre Reiterverbände bekannt waren. So gelang es in der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts einem ihrer Anführer, Hetman Bohdan Chmelnyckyj, ein autonomes ukrainisches Staatswesen gegen die polnischen Herrschaftsansprüche zu etablieren. Dieses existierte
einige Jahrzehnte, wurde jedoch noch im selben Jahrhundert der
russischen Zarenherrschaft unterstellt.
Während der drei Teilungen Polens, die 1772, 1793 und 1795 stattfanden, wurde das restliche ukrainische Territorium zwischen
Österreich und
Russland aufgeteilt. Wo die ukrainische Sprache unter der russischen Herrschaft einer starken Russifizierung ausgesetzt war, konnte sie sich unter den Habsburgern frei entfalten. Nach der Oktoberrevolution (1917) und der damit verbundenen Gründung der Sowjetunion (1922) wurde die Ukraine Teil der UdSSR.
1922 wird die Ukraine Teil der Sowjetunion
Die Sowjetunion wurde nach sprachlich-ethnischen Kriterien gegliedert. Die Ukrainische Sowjetrepublik umfasste demzufolge die Territorien mit einer ukrainischen Bevölkerungsmehrheit. Ihre Kompetenzen blieben zwar beschränkt, und sie musste sich der Parteiherrschaft unterordnen, doch war sie der Kern des heutigen Nationalstaates. Die Ukrainer wurden, im Gegensatz zum Zarenreich, in der Sowjetunion als eigene Nation anerkannt.
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Nach dem Zweiten Weltkrieg folgen in der Ukraine Zwangsumsiedlungen
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Ukraine von starker Industrialisierung und starkem Wiederaufbau geprägt. So kam es auch zu großen Bevölkerungsumsiedlungen: Die gesamte polnische Bevölkerung in der Westukraine wurde entweder umgesiedelt oder vertrieben, die ukrainische Minderheit in Polen wurde in die Ukraine zwangsumgesiedelt. Die Ukraine blieb Teil der Sowjetunion, Chruschtschow machte der Ukrainischen Sowjetrepublik 1954 anlässlich des 300-jährigen Jubiläums der Russisch-Ukrainischen Einheit die Halbinsel Krim zum Geschenk.
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Nach dem Fall der Sowjetunion wurde die Ukraine
1991 wieder ein unabhängiger Staat, dessen nationale Identität zwischen westlicher Orientierung und einer politischen Orientierung zu Russland pendelte. Unter den beiden ersten Präsidenten des Landes, Leonid Kravtschuk und Leonid Kutschma, etablierte sich jedoch eine Politik des
Machtmissbrauchs, der
Korruption und der
Clanwirtschaft.
2004 kommt es in der Ukraine zur Orangenen Revolution
In der Ukraine verblieben nach dem Fall der UdSSR 176 strategische und über 2500 taktische Atomraketen, deren Kontrollsysteme sich jedoch in Russland befanden. Bis 1996 wurden die ukrainischen Raketen entweder nach Russland abtransportiert oder zerstört. Als Kompensation erhielt die Regierung in Kiew
finanzielle Hilfe aus den USA,
günstige Energielieferungen aus Russland und
Sicherheitsgarantien, die im Budapester Memorandum vom 5. Dezember 1994 festgehalten wurden. Darin verpflichteten sich die USA, Russland und Großbritannien, die territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit der Ukraine weder durch Gewalt, noch durch deren Androhung zu verletzen, keinen wirtschaftlichen Zwang auszuüben, auf jegliche militärische Besetzung zu verzichten und solche keinesfalls anzuerkennen.
2004 geschah die sogenannte Orangene Revolution. Sie bestand in einer Serie von Demonstrationen und Protesten sowie einem geplanten Generalstreik. Auslöser hierfür waren die ukrainischen Präsidentschaftswahlen 2004, bei denen Wahlfälschungen gemeldet wurden. Geführt wurden die Proteste von Anhängern des während des Wahlkampfs durch eine
Vergiftung angeschlagenen Präsidentenanwärters
Wiktor Juschtschenko. Laut dem offiziellen Ergebnis der Zentralen Wahlkommission war er dem prorussischen Kandidaten Wiktor Janukowytsch unterlegen. Es folgten wochenlange Proteste, bei denen die Bewegung erreichen konnte, dass die erste Stichwahl für ungültig befunden wurde. Juschtschenko
gewann bei der Wiederholung der Stichwahl am 26. Dezember 2004.
Allerdings ist das politische Geschehen in der Ukraine seitdem von
inneren Machtkämpfen gezeichnet. So
entließ Viktor Juschtschenko bereits 2005 die Regierung unter Julia Tymoschenko. Erneute Streitigkeiten nach den Parlamentswahlen 2006 führten dazu, dass Juschtschenko das Parlament auflöste. 2007 einigte man sich auf eine Koalition der Parteien von Juschtschenko und Tymoschenko, die Machtkämpfe hielten allerdings an. In den Präsidentschaftswahlen 2010 erfolgte daraufhin ein Führungswechsel: Wiktor Janukowitsch wurde zum Präsidenten gewählt und Mykola Asarow übernahm das Amt des Ministerpräsidenten.
2013 kommt es in der Ukraine zu den Maidan-Protesten
2013 kam es erneut zu Unruhen in der Ukraine, dieses Mal vornehmlich auf dem Maidan-Platz in Kiew. Diese richteten sich gegen die Regierung. Auslöser war die Erklärung der ukrainischen Regierung, das
Assoziierungsabkommen mit der
Europäischen Union vorerst
nicht unterzeichnen zu wollen. Präsident Janukowitsch wurde im Februar 2014 per Beschluss abgesetzt.
Nach Unruhen auf der Halbinsel Krim und einem anschließenden Referendum folgte die völkerrechtswidrige Annektierung der Krim durch Russland. So kam es auch in der Ostukraine zu Unruhen, die bis heute andauern. Die Seperatisten im Donbass fordern mehr Eigenständigkeit, bis hin zu einem vollständigen Anschluss an Russland. In Donezk und Lugansk haben die Menschen bei einem umstrittenen Referendum für die Abspaltung von der Ukraine abgestimmt.
Am 25. Mai 2014 wählten die Ukrainer Petro Poroschenko mit einer Mehrheit von 55 Prozent zum neuen Präsidenten.
Poroschenko lag daran, mit Russland in Dialog treten, als langfristiges Ziel sah er die Ukraine aber in der EU. Bei Gefechten zwischen prorussischen Separatisten und ukrainischem Militär gab es viele Tote und Verletzte, die Lebensbedingungen der Einwohner in den ostukrainischen Großstädten Lugansk und Donezk haben sich dramatisch verschlechtert.
Seinen Amtsantritt als Präsident der Ukraine hatte Wolodymyr Selenskyj am 20. Mai 2019. Etwa ein Jahr später, am 4. März 2020, folgte Ministerpräsident Denys Schmyhal als Regierungspräsident. Zeitgleich wurde Dmytro Kuleba als Außenminister eingesetzt.
Präsidenten, die die Ukraine seit 1991 regiert haben
Name Amtszeit
Leonid Krawtschuk 5. Dezember 1991 bis 19. Juli 1994
Leonid Kutschma 19. Juli 1994 bis 23. Januar 2005
Wiktor Juschtschenko 23. Januar 2005 bis 25. Februar 2010
Wiktor Janukowytsch 25. Februar 2010 bis 22. Februar 2014
Oleksandr Turtschynow 22. Februar 2014 bis 7. Juni 2014 (kommissarisch)
Petro Poroschenko 7. Juni 2014 bis 20. Mai 2019
Wolodymyr Selenskyj seit 20. Mai 2019
Krieg in der Ukraine: Die russische Invasion
Im September 2014 trat erstmals eine Waffenruhe in Kraft, im Protokoll von Minsk wurden Friedensvereinbarungen getroffen. Allerdings wurde die Waffenruhe schon bald wieder gebrochen. Im 2. Minsker Abkommen haben sich die Konfliktparteien im Februar 2015 erneut auf eine Waffenruhe im Donbass geeinigt. Auch diese wird bis heute immer wieder durch Feuergefechte gestört. Im Frühjahr 2021 ist der Konflikt wieder massiv aufgeflammt. Die Entwicklung in der Ukraine erregt international tiefe Besorgnis.
Russland hatte Anfang 2022 laut westlichen Medien mehr als 100.000 Soldaten an der ukrainischen Grenze zusammengezogen. Der Westen befürchtete deshalb einen russischen Angriff auf das Nachbarland. Russland wies die Vorwürfe jedoch zurück und gab zugleich an, sich von der Nato
bedroht zu fühlen.
Am
2. Februar 2022 hatte der russische Präsident Wladimir Putin noch die
„mangelnde Bereitschaft“ des Militärbündnisses moniert,
„angemessen“ auf Russlands
„Sicherheitsbedenken“ einzugehen. Am 24. Februar 2022 begann dann die Invasion Russlands in die Ukraine. Aus dem Ukraine-Konflikt wurde der Ukraine-Krieg.
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