Atombombe im Rucksack (PDF-Dossier)
Zeitgeschichte
Im Fall eines dritten Weltkriegs sollten GIs Nuklearwaffen hinter die Front tragen und dort zünden – zum Entsetzen der Bundesregierung
Für einen Atomsprengsatz war der
W54 überraschend handlich: so groß wie ein zusammengerollter
Schlafsack und nur knapp
27 Kilogramm schwer. Ein durchtrainierter Soldat konnte ihn im
Tornister tragen, mit ihm
Fallschirm springen und sogar
tauchen.
Ein wasserdichter Spezialbehälter hielt dann alles trocken. Rund
hundert Exemplare dieser Atombombe für Fußgänger und Schwimmcracks hatten die USA von
1964 an in Europa stationiert, wohl die meisten in schwer bewachten Sondermunitionslagern in der Bundesrepublik.
Die deutsche Öffentlichkeit erfuhr während des Kalten Kriegs nur wenig über die sogenannte
Tornisterbombe und ihre geplante Verwendung. Umso bemerkenswerter ist, dass die Bundesregierung jetzt erstmals Dokumente darüber freigegeben hat.
Es sind einst als
„geheim“ eingestufte Vermerke für Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) aus dem Jahr 1985, die Michael Ploetz, Mechthild Lindemann und Christoph Johannes Franzen vom Institut für Zeitgeschichte entdeckt haben.
Die Vermerke
bestätigen, was lange vermutet wurde:
US-Spezialeinheiten („special forces“) sollten die „Backpack Nukes“ (US-Jargon) bei Ausbruch des dritten Weltkriegs im „Hinterland des Gegners“ zünden: in Polen, in der ČSSR, aber auch in der DDR und der Bundesrepublik – obwohl Tote und gewaltige Schäden zu erwarten waren. Wie die deutschen Diplomaten notierten, sollten sich die GIs „vom Gegner überrollen“ lassen oder „hinter den gegnerischen Linien abgesetzt“ werden, um „Kommandoposten und andere Zielobjekte“ zu zerstören, etwa Brücken, Tunnel, Dämme.
Die Sprengkraft der W-54- Bombe betrug zwar nur den Bruchteil der Zerstörungsgewalt einer US-Interkontinentalrakete, entsprach aber immer noch der Explosionswucht von
tausend Tonnen herkömmlichen Sprengstoffs. Hauptziel der Aktion: die gefürchteten Panzerarmeen der sowjetischen Streitkräfte aufzuhalten.
Die deutschen Unterlagen bestätigen und ergänzen, was US-Veteranen
2014 dem Magazin „Foreign Policy“ über ihre
Erfahrungen mit der W-54-Bombe anvertrauten. Angeblich hatten sich die Soldaten alle freiwillig für die neue Aufgabe gemeldet, darunter viele
Vietnamkriegsveteranen. Sie absolvierten einen einwöchigen Lehrgang in Fort Benning im US-Bundesstaat Georgia, wurden vom Verteidigungsministerium auf psychische Belastbarkeit geprüft und Fitnesstests unterzogen.
Die Soldaten übten im Nationalpark White Mountain
Fallschirmspringen mit W-54-Dummies und probten in den
Bayerischen Alpen, ob sich mit einer W-54- Attrappe
Ski laufen ließ. Ergebnis: nur mit Mühe. Auch ein 27 Kilo schwerer Sprengsatz plus Tornister und Zündmechanik muss erst einmal geschultert werden, das Gesamtgewicht betrug 74 Kilo. Eine falsche Bewegung – und der Läufer landete samt Bombe im Schnee.
Den deutschen Akten zufolge sollten Zweierteams die Bombe zum Zielort bringen. Die Veteranen berichteten, das Bedienfeld sei mit einem
Zahlenschloss in
Leuchtfarbe gesichert gewesen, damit die Soldaten es auch im Dunkeln öffnen konnten.
Laut Vorschrift kannte allerdings jedes Teammitglied nur einen Teil der Zahlenkombination, sodass die Bombe nicht gezündet werden konnte, wenn einer der Männer den Sowjets vorschnell zum Opfer fiel.
Und dann gab es noch das Problem mit dem Zeitzünder. Mal ging er
8 Minuten zu früh los, mal
13 Minuten zu spät. Inwieweit die Deutschen von solchen praktischen Schwierigkeiten wussten, ist unbekannt. Die neuen Dokumente zeigen vor allem die große Sorge Bonns, dass ein US-Präsident einen Nuklearkrieg auf deutschem Boden führen könnte, ohne den Kanzler auch nur anzuhören.
Offiziell erklärte die Regierung von Ronald Reagan zwar, die Tornisterbombe werde im Ernstfall im Rahmen der Nato eingesetzt.
So hätte die Bundesregierung über ein Mitspracherecht verfügt, und die Nuklearwaffe wäre nur gegen jene Ziele eingesetzt worden, auf die das Bündnis sich vorab geeinigt hätte. Doch ein hoher deutscher Nato-Offizier berichtete aus Washington von Hinweisen, dass die USA „über nationale Pläne zum Einsatz von tragbaren nuklearen Mitteln“ durch Special Operation Forces verfügten.
Bei US-Plänen hatte ein deutscher Kanzler nichts zu melden. Resignierend notierte ein deutscher Diplomat am 8. Januar 1985:
„Wir müssen darauf vertrauen, dass die US-Streitkräfte in Europa im Verteidigungsfall nur Nato-integriert eingesetzt werden.“
Das Ende kam überraschend schnell. Der W-54-Sprengsatz zählte zur Waffengruppe der Atomic Demolition Munitions (ADM), sogenannten Atomminen. Die anderen Modelle waren deutlich größer und schwerer und nur mit Fahrzeugen zu transportieren. Gegen die ADM hegten viele Nato-Staaten Bedenken. Als die Nato 1985 beschloss, alle ADM abzuziehen, waren darunter auch die Tornisterbomben. Die Special Forces wird es gefreut haben. Den Männern war nicht entgangen, dass ihnen in einem dritten Weltkrieg ein Himmelfahrtskommando gedroht hätte. Schließlich sollten sie sich nach der Explosion ihrer Bombe in den Westen zurückkämpfen – ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen. Und manche hatten sogar Befehl, die Detonation vor Ort abzuwarten: in Sichtweite zum Sprengsatz.
Klaus Wiegrefe (Der Spiegel)
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