Spektum der Wissenschaft / WINTERKRIEG VON 1939/40 / von Maximilian Zech
Der Krieg, der bekannt vorkommt
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Mit der Oktoberrevolution und dem Sturz des Zaren im Jahr
1917 war es so weit: Finnland erklärte sich zu einem unabhängigen Staat. Die Bolschewiki, ganz mit der Festigung ihrer Macht beschäftigt, erkannten die Unabhängigkeit bald darauf an. 1920 einigte man sich schließlich auf den genauen Grenzverlauf, der weitgehend dem des ehemaligen Großfürstentums Finnland entsprach. Aus der zuvor innerrussischen Grenze, die nur existiert hatte, um den Finnen ein Gefühl der Autonomie zu geben, war nun eine tatsächliche Außengrenze geworden. Sie verlief 50 Kilometer nördlich von Sankt Petersburg, das inzwischen Petrograd und ab 1924 Leningrad hieß. Genau diese Grenze sollte Jahre später zum Auslöser des Winterkriegs werden.
Im Herbst 1939 saßen die Bolschewiki längst fest im Sattel. Diktator Josef Stalin hatte in der Sowjetunion die Macht ergriffen und durch Terror gefestigt. Auch von außen schien ihm niemand gefährlich werden zu können. Mit Deutschland, dem potenziellen Hauptfeind, hatte Russland im August einen Nichtangriffspakt geschlossen. Vor allem aber hatten beide Regierungen in einem geheimen Zusatzprotokoll ihre Interessensphären in Osteuropa aufeinander abgestimmt und nach dem koordinierten Angriff auf Polen noch einmal nachjustiert.
Demnach sollte Deutschland das bereits annektierte Westpolen erhalten, während Ostpolen sowie das Baltikum und Finnland dem sowjetischen Einflussbereich zugesprochen wurden. Stalin hatte es eilig mit der Umsetzung: Kurz nachdem die Rote Armee Mitte September das östliche Polen besetzt hatte, wurden die baltischen Länder gezwungen,
Beistandsverträge mit der
UdSSR abzuschließen und
Militärstützpunkte auf ihrem Gebiet zu dulden, wodurch sie de facto zu Vasallenstaaten wurden. Am 5. Oktober erreichte die finnische Regierung schließlich eine Einladung, Gesandte nach Moskau zu schicken, da es »konkrete politische Fragen« zu besprechen gelte.
Stalins Forderungen
Nach den Ereignissen der letzten Wochen konnte das nichts Gutes bedeuten. Die Regierung des jungen finnischen Staates, noch unerfahren auf dem Parkett der Weltpolitik, hatte die Hoffnung, sich aus den Konflikten der Großmächte heraushalten zu können. Gleichzeitig saß das Misstrauen gegenüber der alten Besatzungsmacht so tief, dass die nach Moskau entsandten Diplomaten kaum mit Handlungsspielraum ausgestattet waren, um etwaigen Forderungen entgegenzukommen. Eine Ahnung, worin diese bestehen könnten, dürfte man in Helsinki bereits gehabt haben.
Schon im Sommer 1938 hatte die sowjetische Seite ihre Sorge zum Ausdruck gebracht, dass Finnland zu einem Aufmarschgebiet für Feinde der UdSSR werden könnte – und in diesem Zuge Sicherheitsgarantien gefordert. Solche Garantien hatte die finnische Regierung bereits mehrfach gegeben. Die Gegenseite ließ jedoch durchblicken, dass man sich vor allem mit sowjetischen Soldaten auf finnischem Boden sicher fühlen würde.
Nun, im Oktober 1939, wurden die Forderungen konkreter. Stalin verlangte, wie schon bei den baltischen Staaten, einen Beistandspakt und vor allem eine Revision der Grenze, auf die man sich 1920 geeinigt hatte. Finnland sollte einen beträchtlichen Teil der Karelischen Landenge, jenes breiten Streifens zwischen dem Finnischen Meerbusen im Westen und dem Ladogasee im Osten, an die UdSSR abtreten. Als Ausgleich wurde ein etwa doppelt so großes Stück Land in Ostkarelien angeboten, das allerdings kaum bewohnt war.
Darüber hinaus sollte Finnland unter anderem mehrere Inseln im Finnischen Meerbusen verlieren sowie die strategisch besonders wichtige Halbinsel Hanko an der südlichsten Spitze des Landes zur Errichtung eines Militärstützpunkts an die Sowjetunion verpachten. Stalin begründete seine Forderungen erneut mit den sowjetischen Sicherheitsinteressen, die er auf Grund der Nähe Leningrads zur finnischen Grenze bedroht sah. Zwar hatte die Stadt offiziell ihren Rang als Kapitale verloren, galt aber immer noch als »zweite Hauptstadt« und damit, so die Befürchtung des Diktators, als potenzieller Sitz einer weißgardistischen Gegenregierung. Auch ein großer Teil der sowjetischen Rüstungsbetriebe befand sich in Leningrad.
Die finnische Regierung verkalkuliert sich
Ob die Sicherheitsbedenken, die Stalin vorbrachte, berechtigt oder vorgeschoben waren, wird noch heute teils kontrovers diskutiert. Spätestens durch die an der baltischen Küste errichteten Militärstützpunkte hatte sich jedoch das Risiko einer Bedrohung Leningrads über die Ostsee stark minimiert. Auch die Gefahr einer auf dem Landweg aus Finnland erfolgenden Invasion war gering und hätte wohl durch die geforderte Neuziehung der Grenze kaum gemindert werden können. Der Diktator gab den finnischen Gesandten zu verstehen, dass es sich um Minimalforderungen handle, über die nicht gefeilscht werden könne.
Sowohl der finnische Verhandlungsführer Juho Kusti Paasikivi als auch der Oberbefehlshaber der Streitkräfte Carl Gustaf Emil Mannerheim rieten der Regierung zu Zugeständnissen, da man einen Krieg mit der Sowjetunion für unmöglich zu gewinnen hielt und bei einer Niederlage das Ende der finnischen Souveränität befürchtete. Die Regierung schlug jedoch sämtliche Bedenken in den Wind und vertraute einerseits darauf, dass Stalin nur bluffte, und andererseits, dass, falls es doch zum Krieg käme, die skandinavischen Nachbarn Finnland beistehen würden. Zusagen dieser Art hatte es allerdings niemals gegeben.
Nach acht ergebnislosen Konferenzen brach die sowjetische Regierung die Verhandlungen Mitte November ab. In Helsinki glaubte man erleichtert, die Gefahr überwunden und mit Unnachgiebigkeit genau die richtige Strategie gewählt zu haben. Nach angespannten Wochen würde sich nun alles wieder normalisieren, zeigte sich Ministerpräsident Aimo Kaarlo Cajander noch am 23. November in einer Rede zuversichtlich. Doch schon drei Tage später begannen sich die Ereignisse zu überschlagen. Am 26. November meldeten die Sowjets, dass Finnland den kleinen auf russischer Seite befindlichen Grenzort Mainila beschossen habe, wodurch vier Soldaten der Roten Armee zu Tode gekommen seien.
Die finnische Regierung, überrumpelt von den Anschuldigungen, erklärte, dass überhaupt keine Artillerie in der Nähe des Dorfes stationiert sei, und versuchte zu schlichten. Doch es war zu spät: Zwei Tage danach kündigte die Sowjetunion den 1932 geschlossenen Nichtangriffspakt auf, kurz darauf wurden die diplomatischen Beziehungen zu Finnland abgebrochen und am 30. November gegen 8 Uhr 30 überschritten die Truppen der Roten Armee die Grenze zum Nachbarstaat. Der Winterkrieg hatte begonnen.
Die Erfindung des Molotow-Cocktails
Noch am selben Tag begann die Bombardierung Helsinkis und ostfinnischer Städte. Die Sowjetunion griff auf dem Land, zu Wasser und aus der Luft an. Es wäre stark untertrieben, von einem Kampf zwischen David und Goliath zu sprechen. 3,7 Millionen Finnen mussten sich nun gegen das größte Reich der Erde mit 194 Millionen Einwohnern zur Wehr setzen. Auf sowjetischer Seite kämpften um die 450 000 Soldaten, hinzu kamen etwa 2000 Panzerwagen, 2000 Geschütze und 1000 Flugzeuge. Finnland konnte mit Mühe 300 000 Kämpfer aufbringen, von denen nicht einmal alle über Waffen verfügten. So behalf man sich mit selbst gebauten Brandsätzen und nannte diese »Molotovin koktaili« – in Anspielung auf Stalins Außenminister Molotow, der behauptet hatte, dass die sowjetischen Bomber Brot brächten. Das Land besaß darüber hinaus höchstens 100 kampffähige Flugzeuge und keine Panzer. Angesichts dieser überwältigenden militärischen Übermacht gingen ausländische Beobachter von einem raschen Sieg der Sowjets aus. Und auch im Kreml war man mehr als zuversichtlich, dass der Winterkrieg innerhalb kürzester Zeit gewonnen sein würde. Molotow zeigte sich überzeugt, dass die Truppen der Roten Armee in drei Tagen in Helsinki stehen würden. Doch es kam anders als erwartet.
Das lag zum einen am finnischen Militär und seinem charismatischen Oberbefehlshaber Mannerheim. Die Truppen hatten sich auf ihrer Hauptverteidigungslinie, der so genannten Mannerheim-Linie, positioniert. Auf diesem etwa 130 Kilometer langen Streifen, der durch unwegsames Gelände die Karelische Landenge durchzog und mit Befestigungen, Unterständen und Panzersperren gesichert war, konnten die Sowjets ihre Übermacht nicht ausspielen. So entwickelte sich der Konflikt dort schnell zu einem Stellungskrieg.
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Russlands Überlegenheit erweist sich als zu groß
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Weitgehend auf sich allein gestellt, ließen die
Kräfte der finnischen Verteidiger nach über
zwei Monaten des Krieges allmählich nach. Anfang
Februar 1940 startete die Rote Armee eine Großoffensive auf der Karelischen Landenge und schaffte es, die Mannerheim-Linie zu
durchbrechen. Die Finnen zogen sich auf eine hintere Verteidigungsstellung zurück, die bald darauf ebenfalls aufgegeben werden musste.
Damit war eindeutig die Wende zu Gunsten der UdSSR eingeleitet.
Doch anstatt den Marsch auf die Hauptstadt antreten und die bedingungslose Kapitulation erzwingen zu wollen, zeigte sich Stalin, der die Regierung in Helsinki zuvor nicht einmal anerkannt hatte, plötzlich gesprächsbereit. Der Winterkrieg war jetzt schon deutlich teurer und verlustreicher als geplant, und eine Fortsetzung hätte noch weitere Wochen dauern können.
Am 23. Februar erhielt die finnische Regierung die sowjetischen Friedensbedingungen. Diese waren um einiges härter als die Forderungen, die vor dem Krieg gestellt wurden.
Finnland verliert den Winterkrieg – doch bewahrt seine Unabhängigkeit
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Ob Stalin ganz Finnland besetzen und einen Vasallenstaat errichten wollte, wird bis heute ebenso kontrovers diskutiert wie die Frage, ob es für die Finnen besser gewesen wäre, auf die im Oktober 1939 gestellten Forderungen einzugehen. Angesichts der Vereinbarungen des Hitler-Stalin-Pakts und des Schicksals der anderen Länder, die darin der sowjetischen Einflusssphäre zugeschrieben wurden, erscheint es jedoch durchaus plausibel, dass für Finnland von Anfang an ein ähnlicher Weg vorgesehen war.
Das Land verlor durch den Winterkrieg etwa
zehn Prozent seines Territoriums, doch es konnte sich – obwohl es im so genannten Fortsetzungskrieg ab 1941 an der Seite Deutschlands gegen die Sowjetunion kämpfte – dauerhaft seine Freiheit bewahren. Durch den »Geist des Winterkriegs« gewann Finnland an internationalem Ansehen und innerer Stärke. Bis heute lebt der Konflikt, wie der Historiker Edgar Hoesch schreibt, als »identitätsstiftende, nationale Bewährungszeit« im kollektiven Gedächtnis fort.
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