Project Syndicate / 3. Maerz 2023 / von Kenneth Rogoff
Warum die Russlandsanktionen am Ziel vorbeigehen
CAMBRIDGE, MASS.: US-Präsident Joe Biden hat das Lob, das er für seine jüngste Reise in die Ukraine und nach Polen anlässlich des ersten Jahrestages der russischen Invasion erhalten hat, völlig verdient. Bidens zehnstündige Bahnfahrt von der polnischen Grenze nach Kiew – keine Kleinigkeit für einen 80-jährigen – hat die Propagandapläne des russischen Präsidenten Wladimir Putin für diesen Anlass komplett zunichte gemacht. Es war ein großer Tag für die Ukraine, die USA und ihre NATO-Verbündeten.
Bidens bei einer Rede im königlichen Schloss in Warschau aufgestellte 
Behauptung jedoch, die 
aktuellen Sanktionen gegenüber Russland wären 
„das umfassendste in der Geschichte je gegen ein Land verhängte Sanktionsregime“ war zwar zutreffend, aber zugleich 
irreführend. 
Die von den USA anderswo – etwa gegen Nordkorea und den Iran – verhängten Sanktionen waren viel schwerwiegender als die aktuellen Sanktionen gegen Russland, weil sie Sekundärsanktionen gegen Drittländer mit umfassten, die weiterhin mit diesen Regimen Handel treiben. Im Falle Russlands fängt dies gerade erst an.
Russland 
verkauft weiterhin Öl an 
Indien und 
China und kauft frisches Obst und Gemüse von 
israelischen Exporteuren. Zudem erfolgt ein Handel enormen Umfangs mittels sogenannter 
Umladungen. Zwar sind die europäischen Exporte nach Russland sanktionsbedingt gesunken; zugleich jedoch ist das Handelsvolumen zwischen Russland und Ländern wie der 
Türkei, Armenien, Kasachstan und 
Kirgisistan steil 
gestiegen.
Die 
Sanktionen haben die russische Wirtschaft daher 
nicht annähernd so hart oder schnell getroffen wie erwartet. In den Anfangstagen des Krieges überraschten die USA sogar langjährige Veteranen des internationalen Finanzsektors, als sie in kürzester Zeit 
300 Milliarden Dollar an offiziellen russischen Devisenreserven einfroren. Als Apple Pay und Google Pay in Russland ihren Betrieb einstellten, hofften viele, dass Moskaus U-Bahnen zum Stillstand kommen würden. Doch während prognostiziert wurde, dass Russlands BIP um mindestens 
10 % einbrechen würde, schätzt der Internationale Währungsfonds nun, dass die russische Wirtschaft 2022 nur um gut 
2 % geschrumpft ist und im laufenden Jahr sogar etwas 
wachsen dürfte.
Natürlich gibt es eine Menge Gründe, die BIP-Zahlen mit Skepsis zu betrachten. Für den Kreml sind sie nur ein Propaganda-Instrument, um die europäischen Länder und ihre Verbündeten zu überzeugen, dass die Sanktionen ihnen selbst mehr weh tun als Russland. Trotzdem ist klar, dass das aktuelle Sanktionsregime der russischen Wirtschaft 
nicht den verheerenden Schaden zugefügt hat, den sich die westlichen Regierungen 
erhofft hatten.
Doch hätten Wirtschaftssanktionen allein nie ausgereicht, um Putins Regime zu stürzen. Der einzige Grund, warum Sanktionen in den 1980er und frühen 1990er Jahren in Südafrika erfolgreich waren, war schließlich, dass die Welt die südafrikanische Apartheid weitgehend geeint ablehnte. Doch das war eindeutig die Ausnahme von der Regel.
Echte Auswirkungen hatten die Sanktionen auf dem Schlachtfeld. Während sie sich wirtschaftlich weniger lähmend auswirkten als von einigen erhofft, haben die westlichen Sanktionen auf Militärtechnologie und Komponenten Russlands Fähigkeit beeinträchtigt, seine Bestände an Präzisionsraketen wiederaufzufüllen. Auch wenn einige Computerchips, die sowohl in ziviler als auch in militärischer Ausrüstung zum Einsatz kommen, sicherlich ihren Weg nach Russland gefunden haben, steht außer Zweifel, dass die Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Spezialchips ihren Tribut gefordert haben.
Doch das reicht 
nicht. Die Sanktionen haben Russland nicht daran gehindert, sich ausreichend Chips zu beschaffen, um große Teile der Ukraine mit intelligenten Minen zu bedecken. Laut einigen Schätzungen sind inzwischen 
30 % der Ukraine vermint, insbesondere der 
Nordosten. Diese durch das (von Russland 
nicht unterzeichnete) Ottawa-Abkommen von 1997 verbotenen Minen könnten die Erholung der Ukraine auf Jahre hinaus behindern. Und Russland hat dies geschafft, ohne dass China das Land 
offen mit Militärtechnologie beliefert hat – ein 
Risikoszenario, auf das die Biden-Regierung kürzlich hingewiesen hat.
Biden mag das von der EU und den USA angeführte Sanktionsregime 
zu Unrecht als das umfassendste je gegen ein Land verhängte bezeichnet haben, aber er lag doch nicht komplett falsch. Insbesondere die 
Finanzsanktionen sind weit reichend und komplex, und einige richten sich sogar gegen Putin selbst. Doch sind die Sanktionen darauf ausgerichtet, 
zuzulassen, dass Russland weiterhin alles außer Öl (für das es trotzdem noch eine Menge Käufer hat) relativ 
unbehindert exportieren kann. 
So ist es in der Tat merkwürdig, dass die USA, die fast 
20 % ihres 
Stroms aus 
Kernkraft beziehen, noch immer 
russisches Uran importieren. 
 
Russland wies vor der Invasion beträchtliche 
Handelsüberschüsse auf; daher hat es weiterhin 
reichlich Zugang zu 
harter Währung für Importe – auch wenn die Umleitung über andere Länder diese Waren verteuert und die Palette der Güter, die Russland kaufen kann, geschrumpft ist. Um die Schrauben gegenüber Putins Regime fester anzuziehen, müssen die USA und ihre Verbündeten mit 
Sekundärsanktionen ernstmachen.
Das freilich ist leichter gesagt als getan. Die von einigen geäußerten Befürchtungen, wonach Sekundärsanktionen eine 
weltweite Rezession auslösen könnten, sind wahrscheinlich übertrieben. Das größere Problem ist, dass 
blockfreie Länder wie 
Indien und russische Verbündete wie 
China die moralische Empörung des Westens über die Invasion in der Ukraine 
nicht teilen. Sekundärsanktionen könnten den Prozess der 
Deglobalisierung, der im vergangenen Jahr Gegenstand 
vieler Analysen war (wenn auch bisher weitgehend ohne Handelskennzahlen), 
beschleunigen.
Auch wenn Biden und die NATO versuchen dürften, das zu 
vermeiden, könnten sie sich genötigt fühlen, den 
Rubikon zu 
überschreiten, falls Putin in der Ukraine beispielsweise taktische Atomwaffen einsetzt. Viele Kommentatoren sind überzeugt, dass dieses „Weltuntergangsszenario“ 
nie eintreten wird, und ich hoffe, sie haben Recht. Doch falls sich Putin (womöglich im Gefolge einer ukrainischen Frühjahrsoffensive) in die Ecke gedrängt sieht und es tut, würde von 
China und 
Indien erwartet, dass sie ihren Handel mit Russland einstellen. Sollten sie sich 
weigern, hätten die USA und ihre Verbündeten keine andere Wahl, als wirklich das schwerwiegendste Sanktionsregime zu verhängen, das die Welt je erlebt hat.
(Aus dem Englischen von Jan Doolan)
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