NZZ / 08.06.2021 / von Matthias Müller, Lulang
China hat die absolute Armut besiegt, doch noch einen langen Marsch vor sich bis zu einer «modernen sozialistischen Gesellschaft» – ein Augenschein in Tibet
Das Autonome Gebiet Tibet hat lange Zeit als das Armenhaus Chinas gegolten. Heute
profitiert die Region von
Investitionen in
Bildung und
Infrastruktur. Wie in ganz China mangelt es jedoch an einem intakten Sozialversicherungssystem.
«Als so arm habe ich meine Kindheit zwar nicht empfunden. Aber die Lebensbedingungen haben sich in den vergangenen Jahren doch deutlich verbessert»,
sagt die 34-jährige Tibeterin Droma. Die Frau hat einen dunklen Teint, trägt einen Zopf und ist in das traditionelle tibetischen Chuba gekleidet, das bis zu den Knöcheln reicht und in der Taille gegürtet ist. Sie sitzt auf einem Stuhl, hat die Hände gefaltet und beantwortet die Fragen auf Tibetisch.
Seit einigen Jahren betreibt sie zusammen mit ihrem Mann in Lulang, einem im Südwesten des Autonomen Gebiets Tibet gelegenen Städtchen, das Pu-Ni-Ma-Familienhotel. Die Region befindet sich auf durchschnittlich 3400 Höhenmetern; 80% sind bewaldet. Neben Bergen gibt es Gletscher, Täler, Flüsse und Seen – ein Idyll für nach Erholung suchende Han-Chinesen. Unweit liegt der 7782 Meter hohe Namjagbarwa, ein für Tibeter heiliger Berg.
«Schweiz des Ostens»
Droma stammt aus einer Bauernfamilie. Wenn sie ihre Kindheit als nicht «so arm» bezeichnet, dann dürfte es mit dem Umstand zusammenhängen, dass sich ihre Familie selbst versorgen konnte und
nicht hungern musste. Und doch ist nun alles besser. Die Regierung hat in der Region rund um Lulang, die auch als «Schweiz des Ostens» bezeichnet wird, mit Millionen die Infrastruktur für Tourismus gefördert. Droma und ihr Mann haben 2008 mit vier Zimmern klein angefangen. In den vergangenen Jahren haben sie mit staatlichen Subventionen ihr Familienhotel schrittweise ausgebaut. «Wir haben nun 16 Zimmer und sind während der Hauptsaison im Juli und August ausgebucht», sagt sie. Zurückzahlen müssen sie den «Kredit» an die Regierung nicht.
Die Tibeterin Droma blickt voller Zuversicht in die Zukunft. Dank ihrem Familienhotel haben sich ihre Lebensverhältnisse deutlich verbessert.
Die Zimmer sind spartanisch eingerichtet. An der Wand hängt ein kleines Fernsehgerät. In dem Raum dominieren die traditionellen tibetischen Farben Weiss, Blau, Gelb, Grün und Rot. Auch im Bad gibt es mit einem Waschbecken, einer Dusche sowie einem Plumpsklo nur das Notwendigste. 180 Yuan, was rund 25 Fr. entspricht, kostet die Nacht, Frühstück und Abendessen inklusive. Und die in sich ruhende Droma hat mit den oft laut und ruppig auftretenden Han-Chinesen keine Probleme. «Sie sind respektvoll und fragen, wie sie sich verhalten sollen, um die tibetischen Gepflogenheiten einzuhalten. Und sie geniessen die intakte Natur», sagt die Tibeterin.
Der amerikanische Ökonom Bill Bikales schreibt in seiner von der Schweizer Botschaft in Peking mitfinanzierten Studie
«Reflections on Poverty Reduction in China», dass nicht alle Regionen vom starken Wachstum in den vergangenen vier Jahrzehnten gleich profitiert haben. So hat das Autonome Gebiet Tibet lange Zeit als eines der Armenhäuser Chinas gegolten.
Die wirtschaftlich schwachen Gebieten haben laut Bikales mit identischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Sie liegen meist in entlegenen Regionen Chinas, wobei sich Geo- sowie Topografie als hohe Hürden dafür erwiesen haben, Zugang zu Dienstleistungen sowie zum chinesischen Markt zu erhalten. «Zudem gehörte die Mehrzahl der Verarmten ethnischen Minderheiten an, denen es wegen ihrer Kultur und Sprache schwerfiel, sich in die han-chinesische Wirtschaft zu integrieren», schreibt Bikales.
Der amerikanische Ökonom betont jedoch, dass sich die Lebensbedingungen in den ärmeren Gebieten Chinas in den letzten Jahren
deutlich verbessert hätten. Bikales führt diese positive Entwicklung auch auf eine von Partei- und Staatschef Xi Jinping 2013 lancierte Kampagne zurück. Damals schickte er
Hunderttausende Regierungsvertreter in die wirtschaftlich darbenden Gebieten, damit sich diese ein eigenes Bild machten und die verarmten Haushalte erfassten. Die für die Armutsbekämpfung lancierten Fonds wurden mit vielen Milliarden geäufnet.
Ende vergangenen Jahres hat Xi den Sieg über die absolute Armut verkündet. Seit Jahrtausenden hätten die chinesischen Herrscher ihre Legitimität daraus gezogen, dass die Bevölkerung zu essen hatte, schreibt Bikales. Für die Kommunistische Partei Chinas ihrerseits war es ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zu einer «modernen sozialistischen Gesellschaft».
Xi hat während der Kulturrevolution am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, arm zu sein und Hunger zu leiden. Er war wegen seines in Ungnade gefallenen Vaters im Januar 1969 in die westlich von Peking gelegene Provinz Shaanxi geschickt worden, wo er bis 1975 die meiste Zeit in dem verarmten und abgeschiedenen Dorf Liangjiahe verbrachte. Auch die Tibeterin Droma rühmt Xi für seine Erfolge im Kampf gegen die Armut.
«Er hat uns ein besseres Leben ermöglicht», sagt sie. Im Wohnzimmer hängen zwei Plakate von Xi, die sie laut eigenen Angaben selbst gekauft hat.
Bildung und Infrastruktur
«Willst du reich werden, musst du zuerst eine Strasse bauen», lautet ein chinesisches Sprichwort. Welche Bewandtnis es damit hat, sieht man auch in Tibet immer wieder. Die wenig befahrenen Strassen sind oft hochmodern, und selbst auf 5000 Höhenmetern ist mit dem Smartphone der Zugang zum Internet noch gewährleistet. Auch das Städtlein Lulang profitiert von den Investitionen in das Strassennetz. Es liegt an der Nationalstrasse G318, die sich über mehr als 5500 Kilometer zwischen Schanghai und der chinesisch-nepalesischen Grenze erstreckt. «Die meisten meiner han-chinesischen Gäste kommen mit dem Personenwagen», fügt Droma an.
Und als zweites Standbein hat die Regierung in den vergangenen Jahren stark in die
Bildung investiert. Dromas zwei Kinder besuchen ein Internat. Das Wochenende verbringen sie bei den Eltern. Wenn es nach dem Willen der Mutter geht, soll der Nachwuchs eines Tages studieren und dann wieder in die tibetische Heimat zurückkehren.
Bildung hat für chinesische Eltern eine grosse Bedeutung. Den Kindern soll es eines Tages besser gehen als den Generationen vor ihnen. Solche Gedankenspiele sind zentraler Bestandteil*des von Xi ausgegebenen chinesischen Traums.
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