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Virtuel
@Bronko
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Sind wir bereit, einen Atomkrieg zu führen?
Stand: 17.03.2022 | Lesedauer: 5 Minuten
Ist Putins Atomschlag-Drohung nur Schall und Rauch? Vielleicht. Was aber, wenn nicht, fragt sich WELT-Autor Jacques Schuster
Quelle: REUTERS/Denis Sinyakov; Claudius Pflug
Die Osteuropäer wollen nicht ruhen, bis die Nato gegen die Russen in den Kampf zieht. Dabei ignorieren sie Putins Drohung mit einem Atomschlag. Ein Blick in die Geschichte zeigt: Es liegt jetzt am Westen, einen kühlen Kopf zu behalten.
Am 16. August 1961, drei Tage nach dem Mauerbau, schrieb Willy Brandt dem US-Präsidenten John F. Kennedy einen aufgebrachten Brief. Empört über die Teilnahmslosigkeit der US-Soldaten in der allmählich zugemauerten Halbstadt klagte der Regierende Bürgermeister von Berlin zornentbrannt über die fehlende amerikanische Hilfe und forderte ein Eingreifen der Alliierten. Doch es geschah nichts.
Am 18. August antwortete Kennedy mitfühlend, aber eindeutig, die USA würden sich nicht in militärische Abenteuer verstricken, solange die freien Zufahrtswege nach West-Berlin gesichert seien. Ein Atomkrieg für die Freiheit der Ost-Berliner kam für Washington nicht infrage.
Aus Sicht der Deutschen war Kennedys Brief ein Schlag ins Gesicht. Für die Amerikaner war er die einzig vernünftige Antwort. Brandt hatte die Deutschen im Blick, Kennedy den Weltfrieden.
Die Episode sollte vorrangig den Osteuropäern nahegebracht werden. Sie rasten und ruhen nicht, ehe die Nato in den Kampf gegen die Russen zieht. Dass die Ukrainer und ihr Präsident genau dies wünschen, ist angesichts der Lage menschlich und zu verstehen.
Den Polen und den Balten aber scheint nicht klar oder gleichgültig zu sein: Eine Friedensmission des westlichen Bündnisses in der Ukraine bedeutet nichts anderes als einen Krieg gegen Russland. Kampfjet gegen Kampfjet, Panzer gegen Panzer, Mann gegen Mann.
Eine Flugverbotszone hieße, jede russische MiG vom Himmel zu schießen und die eigenen F35, F18 und verwitterten Tornados in den Luftkampf zu werfen – stets in der Gefahr einer Eskalation, die im Weltenbrand enden kann. Selbst die Waffenlieferungen könnten die Russen über kurz oder lang auf den Gedanken bringen, die Liefertransporte zu bombardieren. Dieser Gefahr muss man sich zumindest bewusst sein.
Immer wieder klagen hauptsächlich Osteuropäer, die westlichen Angstschlotterer im Allgemeinen, die deutschen Russlandversteher im Besonderen hätten Russlands Präsident Wladimir Putin nicht ernst genommen und seine Worte überhört. Hat er sie nicht jahrelang in berserkerhafter Brutalität hinausposaunt?
Sonderbar ist: Nun schlagen sie ihrerseits Putins Warnungen in den Wind. Seit dem unseligen 24. Februar droht der Kremlchef in rüdestem Ton mit einem Atomschlag, sollten westliche Truppen kämpfend in den Krieg eingreifen. Ist seine Drohung nur Schall und Rauch? Vielleicht. Was aber, wenn nicht?
Die Möglichkeit eines Atomkriegs in diesem Fall liegt womöglich bei einer Wahrscheinlichkeit von 70:30. Vielleicht aber auch nur bei 50:50 oder sogar bloß bei 40:60. Wer kann es verlässlich sagen?
Wissen wir im Kriegsfall, wie es weitergehen würde? Ein Blick in die Geschichtsbücher und die Angriffspläne der Sowjets während des Kalten Kriegs mag Aufschluss geben. In einem solchen Fall hatte Moskau vor, mit geballter Macht nach Westen bis zum Atlantik vorzustoßen.
Ließen sich die Amerikaner zu Anfang ihrer Zeit in Europa nach 1945 die Option noch offen, den Kontinent zu räumen und Großbritannien zur schwimmenden Festung auszubauen, gingen die Pläne später dahin, die Bundeswehr derart auszustatten, dass sie die Russen so lange aufhalten könnte, bis amerikanischer Nachschub Europa erreicht.
Nach der Strategie der „massiven Vergeltung“ entschied man sich Ende der 60er-Jahre für die „flexible Response“: Einem sowjetischen Angriff mit konventionellen Kräften sollte ebenfalls konventionell begegnet werden. Im Falle einer drohenden westlichen Niederlage sollten taktische Atomraketen zum Einsatz kommen, um den Gegner zu schwächen. Würde dieser wiederum weiterziehen und genauso antworten, sollte schließlich der totale Einsatz von Atomwaffen erfolgen.
Im Kern einer jeden Auseinandersetzung mit einer Atommacht müssen sich die Parteien vor Ausbruch des Krieges grundsätzlich eine Frage stellen: Sind wir bereit, im Zweifelsfall einen Atomkrieg zu führen? Wenn die Frage verneint wird, ist es tollkühn, ja, abenteuerlich, bewaffnete Missionen und robuste Einsätze auf einem Kriegsschauplatz zu fordern.
Mit Appeasement oder Leisetreterei hat diese Haltung nichts zu tun. Die Nato und die amerikanische Führungsmacht haben den Russen von Anfang an in härtester Klarheit bedeutet, dass sie einen Angriff auf Nato-Gebiet mit allen verfügbaren Mitteln abwehren werden. Zu Recht! Stimmen die Zeichen, wird das Bündnis darüber hinaus die Nato-Russland-Grundakte von 1997 kündigen und ihre Ostflanke massiv verstärken.
Doch die Ukraine ist kein Nato-Mitglied. Dementsprechend verantwortungsvoll handeln US-Präsident Joe Biden, Großbritanniens Premier Boris Johnson, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der deutsche Bundeskanzler.
Mögen sie die Nerven bewahren und dem einen oder anderen polnischen oder baltischen Verbündeten bedeuten: Die moralische Empörung über entsetzliche Bilder und menschliches Leid darf weder die Vernunft noch die strategische Kühle ersetzen. Es gibt Augenblicke in brenzligen außenpolitischen Krisen, in denen das Bestehen auf Moral zu den unmoralischsten aller Handlungen führen kann.
In diesem Sinn war es auch niemals gewissenlos, dass bedächtige Köpfe wie der zu seinen Lebzeiten nicht gerade als Taube bekannte Vater der Eindämmungspolitik, der US-Diplomat George F. Kennan, oder auch der Falke Zbigniew Brzesinski oder auch Helmut Schmidt darüber nachdachten, der Ukraine eine dauerhafte Freiheit und die Westbindung außerhalb der Nato zu ermöglichen, welche die Russen in ihrem Vorfeld ertragen könnten.
Folgt man den ersten Signalen aus Moskau und Kiew, könnten sich Ukrainer und Russen genau auf das einigen, was die heute oftmals geschmähten Realpolitiker vorgeschlagen hatten: Eine neutrale Ukraine wie es Österreich seit 1955 bis zum Ende des Kalten Krieges war.
Sollte es so kommen – nur Russen und Ukrainer selbst können darüber entscheiden –, dann lässt sich durchaus die Frage stellen, ob es diesen Krieg mit seinen Tausenden von Toten tatsächlich gebraucht hat. Wie dieses Gemetzel auch ausgehen mag, bei allem Mitempfinden für die Ukrainer muss gewahrt bleiben, was den Westen seit jeher stark gemacht hat: intellektuelle Ausgewogenheit, kritische Reflexion, Unterscheidungsfähigkeit – statt Vereinfachungen, Manichäismus und Parteilichkeit.