Alternativlose Corona-Politik
Angst frisst Demokratie
Ein Gastbeitrag von Jakob Augstein
Über Nacht wurden das öffentliche Leben und unsere Grundrechte stillgelegt. Rührt der Rausch des Notstands vielleicht daher, dass die Menschen die tatsächliche Gefahr der Krankheit überschätzen?
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Die Realität ist nüchtern: Nach allem, was wir wissen, handelt es sich bei Covid-19 um eine Krankheit, die eine Minderheit der Menschen ernsthaft bedroht. Die Politik hat beschlossen, zugunsten dieser Minderheit der Mehrheit sehr schwere Lasten aufzubürden. Ob es andere Wege gegeben hätte, mit dieser Krise umzugehen, ist offen - und wird nach allem, womit man rechnen muss, auch offen bleiben. Denn lässt sich tatsächlich vorstellen, dass nach dem Ende der Pandemie ein allgemeines Urteil gefällt wird, die Regierung habe zu schnell und zu scharf reagiert? Oder werden wir nicht vielmehr gezwungen sein, alles auch im Nachhinein gutzuheißen, ganz einfach, weil so viel auf dem Spiel steht?
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Die Angst vor der Krankheit hat die Demokratie aufgegessen. Obwohl wir über die Krankheit nicht sehr viel wissen – oder gerade deswegen. Der Medizinstatistiker Gerd Antes, Professor in Freiburg und weltweit renommierter Experte in seinem Fach, hat dem SPIEGEL gesagt: "Es gibt zwei enorme Probleme mit den Zahlen: Wir wissen nicht, wie viele Menschen sich bislang mit dem neuen Coronavirus infiziert haben und wie viele jeden Tag hinzukommen. Außerdem ist unklar, wie viele Menschen ursächlich an einer Infektion sterben.”
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Untergegangen ist auch, dass die zentrale Argumentation der Bundeskanzlerin, welche Bedingungen eintreten müssen, damit die Restriktionen gelockert werden, inkonsistent ist. Merkel hatte gesagt, Ziel sei es, dass die Zahl der Infizierten sich erst in einem Zeitraum von zehn Tagen verdoppele, dann war von zwölf Tagen die Rede, dann von 14. Es sind nicht die wechselnden Zahlen das Problem, die sind den Unsicherheiten der Krise geschuldet. Das Problem ist das Argument selbst: wir kennen die reale Zahl der Infizierten gar nicht, wir wissen nur, wie viel getestet wird. Wenn die Krankheit schon einen hohen Durchseuchungsgrad erreicht hat, richtet sich die Zahl der Infizierten schlicht nach der Zahl der Tests – das sagt über die Gefährlichkeit der Krankheit oder über die Überlastung des Gesundheitssystems nichts aus.
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Das Corona-Erlebnis wird auch darum in die Geschichtsbücher eingehen, weil es sich hier um die erste Krankheit handelt, die auch über das Netz übertragen wird. Alle Mechanismen der modernen Medienhysterie werden hier wirksam! Und anstatt zu mäßigen, wirken Politik und Medien noch als Brandbeschleuniger. Ja, uns fehlt in jeder Hinsicht die Immunität gegen dieses Virus: gesundheitlich und gesellschaftlich. Diese Krankheit ist ernst. Wir haben sie zur Katastrophe gemacht.